: "Ich sing' wie der Vogel"
■ H.C. Artmann und das Mannerschnittenschachtelmännchen: Ein Gespräch mit dem Wiener Dichter, der am Sonntag den Büchner-Preis erhält
Es ist ein Uhr mittag, und H.C. Artmann ist gerade aufgestanden. Er kommt spät ins Bett, weil die besten Dinge im Fernsehen nachts laufen. Zeitlebens dem poetischen und auch dem gelebten Nomadismus zugetan, ist Artmann doch seßhaft geworden. Über zwei Jahrzehnte hat er im ungeliebten Salzburg gelebt, nun wohnt er wieder in Wien, das er auch nicht besonders mag. Grund für die stationäre Lebensweise: „eine Vaterherz-Sache“. Die 22jährige Tochter studiert in Wien. Auch wenn eine gewisse Melancholie das Gespräch grundiert, ist Artmann freundlich und entgegenkommend. Am Ende zweifelt er daran, daß das Material überhaupt brauchbar ist. „Dichten S' halt was Schönes“, meint er zum Abschied. Das ist allerdings nicht notwendig.
taz: Was bedeutet Ihnen der Büchner-Preis?
H.C. Artmann: Das ist zwar sehr ehrenvoll, Geld kriegt man auch, aber ich fahr' ungern herum, weil mir mein Bein zu schaffen macht.
Sie sind in der Nachkriegszeit lange ignoriert worden. Ihr erstes Buch erschien erst 1958.
Das ist schon wieder so lang her. Das war „Med ana schwoazzn dintn“ und hat mir den völlig falschen Ruf eines Dialektdichters eingebracht. Es war ein reines Experiment: Ich wollte in einer anderen, völlig ungeschriebenen Sprache schreiben, so wie man damals wirklich gesprochen hat.
Ihr Vater war Schuhmachermeister. Haben Sie vom Handwerklichen etwas mitbekommen?
Ich könnte Schuhe besohlen.
Und wenn Sie das Handwerkliche auf die Literatur übertragen?
Das Handwerkszeug besteht darin, daß ich einen Einfall hab', das runterschreibe und ausfeile.
Der Einfall wird gleich notiert?
Ich bin sehr faul und lese nicht gerne Manuskripte. Wenn ich mit einem fertig bin, muß das also tadellos aussehen. Ich habe jetzt lange Zeit nichts geschrieben, weil ich keine Schreibmaschine habe. Den Computer habe ich meiner Tochter gegeben. Mit der Hand schreibe ich nicht.
Auch keine Notizen?
Nein. Höchstens ein japanisches Haiku. Ich bin optisch orientiert und muß sehen, wie das in einem Buch ausschaut. Das ist nur mit der Schreibmaschine möglich. Was ich schon einmal geschrieben habe, lese ich ungern. Vielleicht nach zehn Jahren, da weiß man nicht mehr, was man geschrieben hat. Aber dann finde ich wieder völlig sinnlose Großbuchstaben in den Ausgaben. Im Deutschen gibt es in der Schrift zu viele Oberlängen. Wenn dann auch noch die Großbuchstaben dazwischenkommen... Es muß aussehen wie ein Rosenkranz. Im Spanischen gibt es viele Qs und Ypsilone, aber unsere Schrift ist nicht besonders schön.
Raoul Schrott hat unlängst gesagt: „Rilke war ein guter Dichter, der hat sein Handwerkszeug noch im kleinen Finger gehabt. Aber ab dann wird's marginal.“
Da bin ich völlig konform. Irgendwas Humanistisches fehlt da.
Aber es gibt doch einige junge Lyriker, die Sie mögen?
Ja, sicher. Die sogenannten „ostdeutschen“ Lyriker schätze ich sehr. Den Papenfuß, der ist erstaunlich, oder Thomas Kling, ein Düsseldorfer. Hoffentlich lassen die sich nicht eingemeinden.
Um auf die prosaische Seite der Poesie zu sprechen zu kommen: Wie haben Sie sich finanziell über Wasser gehalten?
Na ja, ich hab' zu Hause gewohnt und von meiner Mutter gelebt.
Wie lange?
Ist auch schon dreißig Jahre her.
Und sonst?
Es ist immer was reingesickert. Vor allem durch Lesungen. Die kann man besser verrechnen. Den Büchner-Preis hätte ich vor zwanzig Jahren kriegen sollen, da hätte ich was damit machen können.
Wenn Sie, wie Sie sagen, faul sind, müssen Sie sich zum Schreiben zwingen?
Wenn ich mich zwänge, würde mehr rauskommen. Aber es kommt immer was dazwischen.
So wenig ist es aber gar nicht.
Na ja, aber ich bin ja schon 76. Wie alt bin ich denn? Ja. (Lacht) Ich merk's ja nicht. Außer, wenn man ein Wehwechen hat, sonst kommt es mir selbst wunderseltsam vor, daß ich schon so alt bin.
Und wenn Sie schreiben?
Habe ich eine Riesenfreude, als ob ich am Piano säße und reinhaue.
An Einfällen, möchte man meinen, herrscht kein Mangel.
Es ist aber der Zufall, der mich dazu bringt.
Und der Einfall wird dann, wie Klaus Reichert, der Herausgeber Ihrer soeben im Residenz-Verlag erschienenen „Gesammelten Prosa“, schreibt, einem Raster unterworfen.
Das stimmt schon. Ich würde das aber nie von mir rauskriegen. Das ist vielleicht das Poetische an mir: Ich sing' wie der Vogel, wie Uhland schon sagt. Gerüche inspirieren mich: Wenn ich zum Beispiel in ein Haus gehe, und es riecht nach Kalk.
Aber Sie haben nicht wie Schiller einen faulen Apfel im Schreibtisch?
Nein. Zum Schreiben muß ich einen völlig freien Kopf haben, den hab' ich momentan nicht.
Jeder hat ein gewisses Reservoir an Vorstellungen und Bildern aus der Kindheit, aus dem man dann ein Leben lang schöpft.
Meine Familie kommt aus dem Waldviertel. Da gab es natürlich allerhand Geistergeschichten et cetera. Daher kommt meine Nähe zu folkloristischen Themen, die ich aber verändere und verfremde. Die Geschichten begannen mit: „Oisdann, da woa amoi oana.“ Ich habe auch einmal versucht, Kärtner Sagen so zu schreiben, wie sie eigentlich gelautet haben müßten. Keiner sagt: „Vor uralter Zeit war einmal eine schöne Prinzessin.“ Ein Scheiß ist das. Wenn einer ein reicher Mann ist, ist er Großbauer und hat eine Tochter. Das heißt dann „der König“.
Was schreiben Sie am liebsten?
Was Neues. Stilistisch und so. Aber es verändert sich im Grunde genommen nur auf ganz feine Art. Es ist wie in der asiatischen Malerei: Für unser Auge malen die auch immer gleich. Es schaut alles chinesisch oder japanisch aus.
Klaus Reichert schreibt auch, daß die Themen Ihres Gesamtwerks schon in Ihrer ersten Veröffentlichung, „Das im Wald verlorene Totem“, vorhanden sind.
Ich mach' mir da drüber wenig Kopfzerbrechen. Es ist eigentlich ein Abenteuer, ein Abenteuer im Kopf. Weil ich neugierig bin, was rauskommt. In letzter Zeit habe ich ja gezeichnet, und zwar blind. Dann mach' ich die Augen auf und schreibe einen Text dazu, der ganz im Gegensatz zum Bild steht. Auch wieder der Zufall.
Ihre Literatur hat auch thematisch mit Abenteuern viel zu tun — ein Ersatz für richtige Abenteuer?
Sicher. Was hätt' ich denn machen können? 14 Tage per Autostopp nach Spanien. Und die Abenteuer in Rußland war'n auch nicht so lustig.
Sie waren sehr jung, als Sie in den Krieg mußten.
18. Wie ich zurückgekommen bin, war ich 24. Da habe ich auch gleich das erste Gedicht geschrieben. Die Pubertät und Jugend mußte ich nachholen.
Sie haben sich einmal in einem Interview zur Avantgarde bekannt. Einer bekannten Definition zufolge ist die Avantgarde der Versuch, die Trennung von Kunst und Lebenspraxis aufzuheben. Sehen Sie das auch so?
Ja. Ich empfinde das als eine Synthese. Ich kann mich schon gegen äußere Einflüsse verschließen. Meine Frau sagt: „Du machst immer die Augen zu.“ Das ist natürlich eine Kriegslehre.
In Ihrem Text „Artmann, H.C., Dichter“ gibt's die schöne Geschichte, in der Sie von dem Mannerschnittenschachtelmännchen erzählen, das vom Haarschneider Horvath an inexistente Adressaten im Ausland geschickt wird und dann wieder zurückkommt.
Ich bin ja in meiner frühesten Jugend nicht aus Breitensee rausgekommen. Im Krieg bin ich das erste Mal weg. Ich hatte immer den Willen, irgendwohin zu kommen. Wegen der Sprachen. Wo hör' ich schon Irisch? Selbst in Irland können das nur ein paar Gelehrte und ein paar Fischer. Mir hat in Irland einmal einer gesagt: „Die reden ja alle Walisisch.“ Ich habe schon Malayisch gelernt, da konnte ich noch nicht einmal richtig Englisch, habe mich auch sehr mit Schriften befaßt. Ein Buch hieß „The Gospel in Many Tones“, da stand der gleiche Satz in 650 Sprachen drin. Das hat mich visuell geprägt.
Das Mannerschnittenschachtelmännchen ist eine sehr hübsche Analogie zu Ihrer Literatur.
Ja, sicher. Mit dem hab' ich begonnen. Mein erstes Manderl habe ich nach Malacky in der Slowakei verschickt, dann nach Frankreich an Pierre Legrand, das weiß ich noch genau. Aus England ist es nicht mehr zurückgekommen.
Ist Ihnen manchmal fad?
Mir is' immer fad. Ich komm' nicht aus dem Haus, ich bin verkabelt, kann arte empfangen. Das ist wichtig, ein gutes Programm.
Ist das Fernsehen als Materialquelle brauchbar?
Es kommt ganz etwas anderes raus. Ich seh' einen Afrika-Film und schreib' dann, weiß Gott, über Alpenblumen.
Was sehen Sie am liebsten?
Stummfilme.
Und was lesen Sie?
Mittelalterliche Romane zum Beispiel. Das hat mich altmodisch gemacht. Ich red' oft Amerikanisch und Englisch und misch' da Sachen rein, die kein Mensch mehr versteht. Dann sagt jeder: „Bist du gebildet“, dabei kann ich nicht einmal normales Englisch.
Zeitgenössische Literatur?
Nix. Da habe ich Angst, mich irgendwie zu verlieren. Ich lese eigentlich nur Gedichte und lerne dadurch die Sprachen wieder. Spanisch habe ich ursprünglich mit Lorca gelernt.
Sie gelten als sehr alerter Leser, der nach wenigen Seiten schon weiß, ob das Buch etwas taugt.
Auch Faulheit.
Wie lange geben Sie einem Buch Zeit, Sie zu interessieren?
Mehr als eine Woche lese ich kein Buch. Ich habe den ganzen Mickey Spillane gelesen, auf schwedisch. Das waren lange Zugfahrten nach Stockholm. Das würde ich heute auch nicht mehr tun, er ist mir zu faschistoid.
Was lesen Sie zur Zeit?
„Die Erfindung der Poesie“ von Raoul Schrott. Das hat er mir gleich zugeschickt.
Und lernen Sie neue Sprachen?
Ich wiederhole das Alte, Assyrisch zum Beispiel. Dreimal so viele Bücher wie hier in Wien habe ich noch in Salzburg liegen. Wo soll ich denn das hinstellen? Es ist gerade erst renoviert worden. Da hat's ja ausg'schaut! Der Werner Schwab hat einmal da gewohnt: überall Schnapsflaschen. Ich hab' ihn aber sehr geschätzt. Er hat so gesoffen, daß ihm fast der Magen geplatzt wäre. Das war schon Suizid. Das letzte, was er zu mir gesagt hat, war: „Ich muß mich jetzt einmal umstellen und was anderes schreiben.“ Dann hat's noch zwei Monate gedauert.
Er war aber trotzdem unglaublich produktiv.
Leute, die nicht lang leben, sind so produktiv. Gott sei Dank kann ich von mir sagen, daß ich nicht produktiv bin, dann leb' ich länger. Mich interessiert immer der nächste Tag. Interview: Klaus Nüchtern
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