Nachmittag eines Diogenes

In der Armenausspeisung der Jesuiten  ■ Von Gabriele Goettle

Die Pfarrei St. Canisius in Berlin-Charlottenburg ist benannt nach Petrus Canisius, dem ersten deutschen Jesuiten, dem Katecheten und Wanderpriester. Allein im Jahr 1565 soll der Pater 8.000 Kilometer zurückgelegt haben, per pedes apostolorum.

Im Gemeinderaum der Canisius Pfarrei gibt es einmal wöchentlich, an Donnerstagen von 15–18 Uhr, Kaffee und Kuchen sowie ein kleines Angebot von Kleiderspenden. Was ursprünglich als Einrichtung für minderbemittelte Senioren gedacht war, entwickelte sich zum Treffpunkt für Randexistenzen. Obgleich die ungesunde Kost nicht bei allen auf Begeisterung stößt, versammeln sich doch jeden Donnerstag die eigenartigsten Armen, auch solche, die, weil sie zu scheu, zu verrückt, zu laut oder zu schmutzig sind, in anderen Einrichtungen nicht auftauchen, Hausverbot bekämen oder bereits haben. Der gute Kaffee und die unaufdringliche Zurückhaltung der ehrenamtlichen Helferinnen sorgen für eine gewisse Standorttreue der Gäste.

Einige von ihnen, besonders der radikal Obdachlose, stehen in ihrem jährlichen Pensum an zu Fuß zurückgelegten Kilometern in nichts dem Pensum von Petrus Canisius nach, nur führen die Wege nicht von Nimwegen nach Augsburg, Rom und Messina, sondern vom Zoo zum Lietzensee, in den Tiergarten, nach Lichtenberg und wieder zurück Unter die Linden.

Im Innenhof, vor der noch verschlossenen Glastür zum Gemeinderaum, stehen die zu früh gekommenen Gäste und plaudern. Die Slawistin, wie immer in Begleitung ihrer selbstvergessen lächelnden, erwachsenen Tochter, mit der sie teils französisch, teils deutsch spricht, wendet sich mir zu, fragt nach meinem Studium und erzählt, noch bevor ich den Mund öffnen kann, von ihrem.

Slawistin: Ich hatte Russisch im Hauptfach und als zweite Sprache wählte ich Tschechisch, damals, aber man versteht ja dann von allen slawischen Sprachen ein bißchen was. Im Beruf bin ich aber schon lange nicht mehr, ich habe ja damals aufgehört und dann vier Kinder großgezogen, da kommt man raus, aus allem ... Ist eigentlich der mit dem Fahrrad da? Hier ist was lose, an meinem Schutzblech. Ich fahre ja jetzt nur noch Rad, seit das war, mit meinem Autounfall, meinem Schleudertrauma ...

Radfahrer: So, so, da seid ihr ja alle! Ich habe extra die Straßen hier frei gemacht, damit ich fotografiert werden kann (lacht laut).

Slawistin: Hast du Werkzeug dabei, mein Schutzblech wackelt?

Radfahrer: (in normaler Lautstärke) Nee, hab' ich nicht, das hab' ich zu Hause gelassen, weil's mir zu schwer ist, (und brüllend) ich werde nämlich nachher gefilmt, wißt ihr, das Gebiet hier wird abgesperrt, wegen dem Volksauflauf, den ich verursache. Denn so was ist gefährlich, und wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um!

Slawistin: (mit ärgerlichem Gesichtsausdruck) Der spinnt, der ist keine Hilfe!

Von innen wird aufgesperrt, die Versammelten treten ein, begeben sich zur Durchreiche an der Teeküche, wo jeder seinen Kuchenteller erhält, mit dem man dann hinübergeht in den Gemeindesaal, um Platz zu nehmen, an einem der sechs langen Tische. Zwar gibt es keine feste Tischordnung, es sitzen aber meist dieselben Leute beieinander. Der Schauspieler aus Wien und der Antiquar unterhalten sich bereits angeregt, während der Radfahrer schweigend ein wenig abseits sitzt und emsig Kaffee in seine privaten Thermoskannen abfüllt.

Wiener: (in seinem Kaffee rührend, den er bezahlt hat, darauf besteht er, um zu demonstrieren, daß er nicht zu arm für einen Kaffee ist) Warum die braun war'n, das kann man nur vermuten, vielleicht waren die billig im Angebot, die Hemden.

Antiquar: Glaub' ich nicht, die SA-Uniformen mußten sich die Männer ja selber kaufen, vom eigenen Geld.

Wiener: Ich passe!

Antiquar: Mein Vater, der war ja zuerst Kommunist, dann ham sie ihn zusammengeschlagen, danach wurde er PG. Ich würde ja gerne mal da nach Zehlendorf gehen, zu diesem Document-Center, wo die ganzen NS-Akten liegen, aber ich habe gehört, daß man da gar nicht so leicht rankommen soll?

Wiener: Du mußt datenmäßig ganz genaue Angaben machen können über die betreffende Person, dann bekommst du die Akte auch zur Einsicht.

Antiquar: Das kann ich ja, er war ja mein Vater ... Und er hatte was angestellt, als er mal nicht ganz nüchtern war, da hat er sich verlobt, obwohl er schon verheiratet war. Er hat ein Eheversprechen abgegeben, die Frau war auch irgendwie die Tochter von einem PG, und es gab ein großes Theater, er flog raus aus der SA und kam sogar ein Vierteljahr ins Gefängnis.

Wiener: Mhm...

Radfahrer: (überaus höflich) Darf ich auch was von meinem Papa erzählen?

Antiquar: Bitte.

Wiener: Wenn's sein muß.

Radfahrer: Mein Vater, seit elf Jahren ist er tot, der aß wahnsinnig gern Erdbeeren, und er aß so viele davon, daß er eines Tages umgekippt ist, aber er war trotzdem ein Anhänger von Erdbeeren – und ein Anhänger von Thälmann – und ist es geblieben! Die ganzen Jahre. Bis zum 17. Juni 1953. In dem Moment, wo das damals losging, da haben sie seinen Traum totgeschossen, mit ihren ganzen Waffen, die Kommunisten. Den ganzen schönen Thälmann-Traum haben sie platt gewalzt, mit ihren Panzern. 1949 kam er aus der Gefangenschaft, ging zu seinen alten Freunden, und vier Jahre später war alles kaputtgemacht.

Antiquar: Davor gab's ja schon die Moskauer Schauprozesse...

Wiener: Und den Hitler-Stalin- Pakt.

Radfahrer: (laut) Das interessiert mich jetzt nicht, ich rede vom Thälmann-Traum!

Obdachloser: (mit Fistelstimme) Es lebe die Sozialistische Internationale!

Ein großer dünner Mann, mit enormem Hämatom ums rechte Auge herum, nähert sich tänzelnd dem Tisch. Er trägt eine zerschlissene beige und zu enge Cordjacke, um die Taille mit Paketschnur gegürtet, dazu blaugrüne Cordhosen, schwarze Socken und helle Slipper, aus sehr dünnem und edlem Leder, das aber an vielen Stellen aufgerissen ist. Mittels einer weiteren Schnur, quer über die Schulter gehängt, trägt er eine pralle lederne Tasche bei sich und, unter den rechten Arm geklemmt ein großes schwarzes Kofferradio, mit dem stets leeren Batteriefach. Er setzt behutsam seinen Kuchenteller am Kopfende des Tisches ab und kommt zu uns herüber.

Antiquar: (freundlich) Hallo, da bist du ja wieder.

Wiener: Bitte! Nicht so nah kommen, ich bin nicht krankenversichert ... (zu uns) Jemand, der so lange auf der Straße lebt, wie der – ich bewundere das ja – aber der hat mit Sicherheit Tuberkulose und was es da noch so an Krankheiten gibt, das ist unvermeidlich!

Obdachloser: (lacht und hustet theatralisch in ein frisches weißes Taschentuch, das er flink aus seiner Jackentasche gezogen hat) Blut, oh!

Antiquar: Die Tuberkeln springen nur über, wenn der Organismus schwach ist.

Wiener: Ja, das weißt du, aber wissen das auch die Tuberkeln?

Obdachloser: Ich bin kerngesund, Herrschaften! (Er geht zurück zu seinem Platz, beginnt mit schmutzstarrenden Händen sehr gesittet zu essen, beim Kaffeetrinken führt er die Tasse über der Untertasse schwebend zum Munde.)

Antiquar: Wo war'n wir stehengeblieben? Ach ja, das wollte ich noch sagen, es gab ja sogar eine gemeinsame Streikaktion. Rot und Braun gingen zusammen, ich glaube, es ging gegen die Reichsbahn, Ende 1920.

Wiener: Die haben nur die Streikposten gemeinsam gestellt...

Radfahrer: (brüllend und mit erhobenem Finger) Die haben den Lebenstraum von meinem Vater zusammengeschossen, versteht ihr das?!

Wiener: Die doch nicht! Hörst, du machst mich ganz nervös mit dem Geschrei, red leiser, oder geh raus zum Schreien.

Radfahrer: (geht erregt und mit wutverzerrtem Gesicht ab)

Wiener: Ich liebe ihn ja, aber am liebsten isser mir, wenn er draußen steht und raucht. Im Ernst, gut, der Mann ist nicht dumm, man soll Geduld haben, mit diesen Verrückten, aber ich hab' keine Geduld! Mich macht der nervös.

Antiquar: Er fährt den ganzen Tag mit seinem Fahrrad in der Stadt herum, 120 Kilometer und den ganzen Tag hört er Vivaldi mit seinem Walkman, seit Neustem hört er sogar Mahler, das Lied von der Erde, vielleicht kommt's davon?

Wiener: Wo hat er denn das her?

Elisabeth: Von mir.

Wiener: Auch noch unterstützen, den Wahnsinn! Du hast es gut, du bist noch unverbraucht, Deine Ohren und Nerven sind jungfräulich, ich hingegen kenne gewisse Leute seit mehr als zehn Jahren und unsern Freund hier (macht eine leichte Kopfbewegung zum Obdachlosen hin), den hab ich mir auch schon zur Brust genommen.

Antiquar: (leise zu uns) Er ist zusammengeschlagen worden, nachts.

Wiener: Was ich sag', die Brutalität nimmt immer mehr zu, auch in diesen Kreisen. (Und zum Obdachlosen) Gut schaust aus, warst denn schon beim Arzt?

Obdachloser: Ja. Ich wollte das am Bahnhof Zoo gleich aufnehmen lassen, auf der Polizeiwache – denn ich kenne den Schläger ja genau – aber da hat man mir die Amtshilfe verweigert, hat mich wieder weggeschickt.

Wiener: Die kannst du anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung.

Obdachloser: Ja, könnte ich wahrscheinlich, aber wem? Man nimmt ja keine Anzeigen von mir entgegen?

Wiener: Mhm ... Und den Mann kennst du, lebt der auch auf der Straße?

Obdachloser: Das ist doch für den Sachverhalt ohne jede Bedeutung. Ich muß ihn anzeigen können, wenn ich ihn zur Rechenschaft ziehen will.

Antiquar: Keine Zeugen?

Obdachloser: Nein, aber ich habe alles notiert, soweit.

Wiener: Bist du in Behandlung?

Obdachloser: Wie man es nimmt. Der Arzt hat Erste Hilfe geleistet und gesagt, daß vielleicht der Sehnerv beschädigt ist, eventuell muß operiert werden, aber ich habe jede weitere Behandlung abgelehnt.

Wiener: Warum, du kriegst sie doch umsonst?

Obdachloser: Ich will erst mal abwarten, bis alles abgeschwollen ist, bis jetzt sehe ich noch alles doppelt... Momentan bin ich in der Magdalenenstraße in Lichtenberg, in der Krankenwohnung, von der Stadtmission. Nur übergangsweise, bis ich mich erholt habe von diesem ... dieser Gewalt ...

Wiener: Sag mal, wie isses denn eigentlich zu dieser Situation gekommen?

Antiquar: Ja, erzähl mal.

Obdachloser: Also, das jetzt zu erzählen, wäre eigentlich ... Jedenfalls habe ich mich nicht gewehrt, ich wehre mich nie! Der Mann hat mir einfach mit einem Stück Holz mitten ins Gesicht geschlagen, mit aller Wucht. Ich habe das im ersten Moment gar nicht kapiert, das hat auch gar nicht direkt weh getan, nichts. Ich habe mich vom Tatort entfernt und als sie meine Anzeige nicht entgegengenommen haben, da bin ich zu meinem Zwischenlager gegangen, im Tiergarten, zum Lortzing Denkmal von Schadow, da habe ich dann, wie immer, geschlafen. Frühmorgens hat es geregnet, und ich bin aufgewacht. In solchen Fällen gehe ich dann immer zur Siegessäule, in den Tunnel. Dort habe ich mich untergestellt. Schon auf dem Weg dahin hat das Auge ziemlich stark angefangen zu schmerzen, aber ich habe mich auf etwas anderes konzentriert. Unten waren schon einige andere da, und die schauten sich das Auge mal etwas genauer an – das Neonlicht ist da unten ja dermaßen schlecht, Touristen werden sich die Beine brechen – und von denen, die sich das also angesehen hatten, habe ich dann erst erfahren, wie es um mich stand. Ich hatte das mit dem Holzstück im Auge nämlich gar nicht bemerkt.

Antiquar: Da war ein Splitter drin?

Obdachloser: Ja, der steckte in meinem Auge. Daß ich derart schmerzunempfindlich bin, das habe ich nicht gewußt, das hat mich überrascht.

Wiener: Das war wohl der Schock.

Obdachloser: Möglicherweise. Einer hat nach dem Rettungswagen telefoniert, und in diesem Fall bin ich natürlich sofort darauf eingegangen, mich behandeln zu lassen, mich ins Krankenhaus zu begeben, zur Entfernung des Splitters. Ich hätte mein Auge verlieren können, sagt der Arzt. Hätte. Habe aber nicht. Jetzt muß ich den Täter Konsequenzen spüren lassen, und das ist mir lästig. Das bedeutet, daß ich meinen Dienstwagen, C-Abteilung, und den lizensierten Anzug nehmen muß, plus meine bronzene Marke, um der Polizei den Vorfall genauestens zu Protokoll geben zu können. Das ist entwürdigend. Könnt ihr euch vorstellen, was das für mich bedeutet? Das nächste Mal wird mir der Mann in den Kopf schießen, wenn ich nichts unternehme. Das war die Geschichte.

Der Obdachlose trinkt einen Schluck. Alle vermeiden es, ihm ins blutunterlaufene, eiterverkrustete Auge zu sehen, mit dem er uns streng mustert.

Antiquar: Rudi Dutschke wurde auch in den Kopf geschossen.

Obdachloser: Rudi Dutschke ist tot...Aber den SDS, gibt's immer noch!

Wiener: So?

Antiquar: Nein, das ist ein Irrtum.

Obdachloser: (beharrlich) Doch, den gibt es ... überall!

Wiener: Siehst, jetzt spinnt er wieder.

Obdachloser (mit Pathos) Ich bin ein gebürtiger DDR-Bürger, ich war Pionier und FDJler, ich war und bin ein Edelpionier, weil ich nicht das blaue, sondern das rote Hemd trage. Und wißt ihr, wer innerhalb der DDR mein Vorbild war, damals?

Alle verneinen matt.

Obdachloser: Wilhelm Pieck

Wiener: Was, der?!

Obdachloser: Ja, ja, aber nicht, weil er Staatspräsident der DDR war, was war er denn ursprünglich?

Antiquar: Reichstagsabgeordneter?

Obdachloser: Das meine ich nicht. Er war der Sohn eines Kutschers, er hatte kein Abitur gemacht, keine Universität besucht, er hat nur Tischler gelernt und trotzdem wurde er ein kluger Mann, ein großer Mann, Mitbegründer der KPD, der Roten Hilfe. 1933 mußte er ins Exil.

Wiener: (höhnisch) Hotel Lux!

Antiquar: (stichelnd) Da traf er dann Ulbricht, Becher, Weinert, Bredel und die anderen. Da ist ja einiges ruchbar geworden, später.

Obdachloser: (erregt) Und wer hat das Nationale Komitee Freies Deutschland gegründet? Wer hat mit General Paulus gesprochen und ihn überzeugt? Wilhelm Pieck und die anderen! Und das Nationalkomitee Freies Deutschland hat ja dann international eine starke Anti-Hitler-Koalition geschaffen, da haben viele Leute mitgewirkt, weltweit, nicht nur linke Emigranten, auch Thomas Mann, und in Deutschland, nicht zuletzt Graf von Stauffenberg ...

Radfahrer: (der seit einer Weile stumm zuhört) Stauffenberg, entschuldige, aber der war für mich 'ne Nulpe!

Obdachloser: Das ist beleidigend, für einen Hitler-Attentäter!

Radfahrer: Für mich gibt's nur einen, der es verdient, daß man Hitler-Attentäter zu ihm sagt, den Elser, das ist der, der in München damals im Hofbräuhaus die Bombe reingebastelt hatte in die Säule. Und nur, weil der Scheißhitler zu früh weggegangen ist, nach seiner Rede, mußte die Bombe ohne ihn in die Luft fliegen, so war das nämlich, (brüllend) verstehste das? Und der war kein vornehmer Offizier! Der hätte als Einzelkämpfer mehr erreicht, als deine ganzen Kommunisten und deine ganzen Stauffenbergs zusammen. Siehste, das ist mein Lieblingstischler. (Geht zufrieden ab)

Die beiden Damen erscheinen und beginnen, die Tische abzuräumen, es ist Zeit zu gehen. Man begibt sich zunächst hinaus in den Hof und debattiert dort weiter. Der Radfahrer ordnet seine Packtaschen und Windräder.

Radfahrer: (sehr laut) Mein Liebslingstischler ist Elser, verstehste?!

Wiener: Muß der immer so schreien?

Obdachloser: (schreiend) Und mein Lieblingstischler ist und bleibt Wilhelm Pieck! Hoch lebe die Sozialistische Internationale!

Wiener: (flieht, mit den Händen die Ohren bedeckend) Ich geh'.

Obdachloser: (in normaler Lautstärke) Eine Frage stelle ich noch. Canaris, Admiral Canaris, in welcher Partei war der wohl, vor 1933?

Radfahrer: (der im früheren Leben Werkzeugmacher war) Was geht mich ein Admiral an, der kann mir gestohlen bleiben. (Fährt elegant davon)

Obdachloser: Admiral Canaris, der Abwehrchef, war bei den Sozialdemokraten! All die Leute, die hingerichtet wurden nach dem 20. Juli, sind eingeschleust worden, um von hohen Positionen aus das System zu zersetzen!

Antiquar: (mit lüsternem Unterton) Und Roland Freisler, der Blutrichter, war ja angeblich in den zwanziger Jahren bei der Roten Armee...

Obdachloser: (fixiert den Antiquar mit seinem blutunterlaufenen Auge und brüllt ihn sehr laut an) Freisler, Rußland ...

Ein Jesuitenpater, der sich etwas abseits stehend mit einer älteren Frau unterhält, ruft unwillig: Hallo, bitte nicht so laut.

Obdachloser: (brüllend) Wlasow, Wlasow-Armee, sagt dir das etwas?!

Antiquar: Aber das war 1944!

Obdachloser: Eben! (Und brüllend) Ja, verstehst du denn nicht, wer war denn wohl der Arrangeur dieser antibolschewistischen Armee kriegsgefangener Rotarmisten? F R E I S L E R ! (Unter dem mißbilligenden Blick des Jesuiten fährt er in unverminderter Lautstärke fort) Warum beherrschte der denn so gut russisch? Weißt du's? Die Mutter von ihm war Baltenrussin. So, und da schließt sich der Kreis, auf der anderen Seite kämpfte Wilhelm Pieck, mit dem Komitee Freies Deutschland, mit Generälen, Offizieren und Soldaten der Wehrmacht, gegen den Faschismus. Wer hat denn gesiegt, letzten Endes? Das ist noch nicht entschieden!

Wiener: (der zurückgekommen ist) Die Deutschen lieben ihre Geschichte!

Antiquar: Es is auch deine, vergiß das nicht, wir waren alle Deutsche.

Wiener: (lachend) Ich nicht, ich bin russisch-jüdischer Mischling.

Obdachloser: Ich hingegen, gezeugt von einem deutschen Vater, bin herausgekommen aus meiner Mutter, als DEUTSCHER, am 1. 1. 1953. Getauft wurde ich in Eberswalde, in der Maria-Magdalenen-Gemeinde, und zwar am 17. Juli 1953. Tatsache!

Antiquar: Schade, daß der Radfahrer nicht mehr da ist.

Wiener: Ein Schreihals weniger.

Obdachloser: Meine Mutter war eine gute Christin, meinen Vater können wir in jeder Beziehung vergessen, aber mein Großvater war Kommunist. Gegen seinen Willen gaben sie mir den Namen Reinhold, das klingt wie Rheingold! Schrecklich, wie ich unter diesem Namen gelitten habe, schrecklich, weil vollkommen umsonst! Später las ich, was das ethymologisch bedeutet: dem Reinen zugeneigt! Bin ich das nicht (er schaut skeptisch an sich hinab) von innen her gesehen?! Rein und hold, freiwillig bedürfnis- und besitzlos. (laut) Ich bin ein deutscher Mensch, ein Stück Geschichte!

Jesuit: Ich muß doch bitten, nicht so laut zu sein, es ist Feierabend!

Obdachloser: (ohne sich umzudrehen) Wie bitte? Es gibt keinen Feierabend für die Geschichte!

Später, an einem Imbißstand.

Wiener: Das ist nicht ernstzunehmen, was der so hervorbringt. Ein Virtuose ist das, jedesmal fällt ihm was anderes ein, mal kam er an in einer Uniform, weißt noch?

Antiquar: Ich erinnere mich, der macht gut andere Leute nach.

Wiener: Ein phänomenales Gedächtnis hat er, beneidenswert, und ein lexikalisches Wissen ... aber normal ist der nicht, das ist ein Verrückter! Ein kranker Mensch braucht Behandlung.

Antiquar: Er soll ja als Patient in den Lobethaler Anstalten gewesen sein, damals, als Erich Honecker dort Zuflucht genommen hatte, bei diesem Pastor, wie hieß er doch?

Holmer, sage ich und alle beißen schweigend in ihre Wurst.

Nachtrag:

Seither ist der Obdachlose verschwunden. Unsere Nachfragen in den Suppenküchen haben nichts ergeben, niemand hat ihn gesehen, einer hatte etwas gehört von Krankenhausaufenthalt und Augenklinik Westend. Ein Anruf dort ergab, Reinhold V. war und ist nicht in der Patientenkartei. Ein Anruf bei der Stadtmission Lichtenberg war erfolgreicher. Reinhold war dort gewesen in der Krankenwohnung, aber nur für kurze Zeit, dann habe man ihn leider raussetzen müssen, er sei laut gewesen, habe randaliert und mit Gegenständen um sich geworfen, man erinnere sich nur noch dunkel an ihn, es sei schon eine ganze Weile her und es passiere andauernd was Neues, momentan habe man z. B. ganz andere Sorgen als Randalierer, denn die Notübernachtungsstelle für Obdachlose werde vom Senat nicht weiter finanziert, unter die Schließung falle auch die Krankenwohnung, die einzige in der ganzen Stadt. Wohin der Obdachlose Reinhold V. nach dem Hinauswurf ging, entziehe sich ihrer Kenntnis.