Sanktionierte Bestialität

■ Ganz normale Männer: Der Thalia Treffpunkt zeigt ein Projekt über die Verstrickung Hamburger Polizisten in die Ermordung polnischer Juden

210 Vernehmungsprotokolle und Gerichtsakten Ganz normaler Männer wertet der amerikanische Historiker Christopher R. Browning in seinem 1993 erschienenen gleichnamigen Buch aus. Ganz normale Deutsche, sollte man besser sagen, oder noch genauer: ganz normale Hamburger. Sie waren ab 1942 als Mitglieder des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101 an der Ermordung und Vertreibung von Juden in Polen beteiligt. Wie gelang es diesen Männern, fragt Browning, „Mord und Totschlag zu ihrer alltäglichen Handlungsweise zu machen“?

Die Hamburger Zivilisten waren mit durchschnittlich 39 Jahren zu alt für den Kriegsdienst. Vier Wochen lang wurden die Handwerker, Beamten, Angestellten und Arbeiter im Schußwaffengebrauch trainiert, dann zur Deportationen von Hamburger Juden abgestellt, ab 1942 in Polen eingesetzt. Bevor es in dem polnischen Dorf Józefów zum ersten Massaker kam, wurden sie ausführlich über ihre blutige Aufgabe unterrichtet: Die Juden des Dorfes sollten auf dem Marktplatz zusammengetrieben werden, die Männer für den Arbeitseinsatz selektiert, Frauen und Kinder sofort in einem nahegelegenen Waldstück erschossen werden.

Keiner wurde zum Morden gezwungen: Wer sich „zu alt“fühle, hieß es, könne zurücktreten. Acht bis zwölf der 500 Polizisten nahmen das Angebot an. 1700 jüdische Frauen und Kinder wurden an diesem Tag im Dorf ermordet.

Herbert Enge, Theaterpädagoge am Thalia Theater und Leiter des Thalia Treffpunkts, einem Work-shopprogramm für Laientheatermacher, hat aus den Prozeßakten und Texten von Zeitzeugen ein Stück erarbeitet. „Mich hat vor allem die Täterseite interessiert“, sagt Enge: „Es geht darum, auf die Beteiligung von Hamburger Reservepolizisten an den Judenermordungen in Józefów hinzuweisen.“In Zusammenarbeit mit der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule ist er in einer historischen Spurensuche diesem dunklen Kapitel Hamburger Geschichte nachgegangen.

Zwölf Studenten, Berufstätige und Rentner zwischen 20 und 70 Jahren sind die Darsteller der Geschichte. In einem inszenierten Stadtrundgang von den Deichtorhallen bis zum ehemaligen Hannöverschen Bahnhof am Lohseplatz, von dem aus Hamburger Juden unter Mitwirkung des Polizeibataillons 101 deportiert wurden, geht es um die Frage, wie und warum die Männer zu Mördern wurden. Spielszenen an den Gleisen versuchen gar nicht erst, das Grauen zu kopieren: „Die Rolle des Theaters kann nur sein, die Geschichte zu erzählen und Fragen zu stellen.“

Katja Fiedler

Premiere: Sonntag, 15 Uhr, Treffpunkt Deichtorhallen