Ein Roadmovie auf Skibrettern

■ Alles reif für die Komödie, doch es kommt ganz anders: Tom Tykwers „Winterschläfer“

Eine Geschichte, die sich dem Sog des Zufälligen überläßt, es aber genau nimmt mit der Einzeldarstellung ihrer Figuren – das ist nicht das einzige Paradox in Tom Tykwers „Winterschläfer“. Die vier Hauptpersonen proben das unkonventionelle Endzwanziger- Leben in den Bergen, aber der Ausstieg ins Wolkenkuckucksheim ist vor allem spießig. Die Villa ist geerbt, die Möbel Sammlerstücke, und auch die Hirschgeweihe hängen schon. Das Bett ist gemacht, die Komödie könnte beginnen. Daß es nicht so kommt und Tykwer auch keine der gängigen Genreanleihen an Thriller, Lovestory oder Melodram wirklich durchhält oder zumindest artig parodiert, überrascht zunächst. Dann wird klar, daß das Hauptaugenmerk dieses Films ganz woanders liegt, nämlich auf der in voller Cinemascope-Opulenz zelebrierten Bildkomposition. Hier liegt die inszenatorische Stärke des Films. Mit Hingabe ans Detail ist das Tykwer-Set ausgestattet, das die Kamera geruhsam abtastet. Sei es das in allen Schattierungen der Rotpalette ausgestaltete Zimmer der blonden, stets rot gekleideten Übersetzerin mit rötlicher Andy- Warhol-Bettwäsche (die mit Marylin). Oder die Helikopteraufnahmen, auf denen auf eine zerklüftete Schneewüste gezoomt wird, die sie aussehen lassen wie ein erodierendes Kalkfelsengebilde. Der Schnee als großer Egalisator, der alles verschönt, verdeckt, unberührt und unschuldig erscheinen läßt. Zu Beginn untermalt ein wummernder Sound das Ganze wie eine filmische Schußfahrt, ein Roadmovie auf zwei Skibrettern.

Dabei ist der Anfang idyllisch. Weihnachten ist vorbei. Man kehrt zurück in die selbstgewählte Heimat des Bergkaffs. Heino Ferch gibt den Skilehrer Marco, der Über-Ich-gepeinigt seinen Primärbedürfnissen, in der Hauptsache Mädels und Fernsehen, nachgeht. Ausgerechnet der eitel-empfindsame Pistendepp hat die Übersetzerin Rebecca (Floriane Daniel) zur Freundin.

Hier nun passiert ein folgenreicher Lapsus. In geiler Wiedersehensekstase läßt Marco den Alfa Romeo samt Zündschlüssel unbewacht zurück, und die edle Karosse verschwindet bald dramatisch unter den Schneemassen.

Eben diese Szene, in der der von Ex-Schaubühnen-Schauspieler Ulrich Matthes gespielte mysteriöse René auftaucht, zeigt Tykwers Händchen für Thriller-Entrees. Denn René hat Gedächtnisprobleme, stets ist er mit einer Lomo- Kamera bewaffnet, die ihm als Erinnerungsstütze dient. Wie David Hemmings als Fotograf in Antonionis „Blow up“ tritt hier ein Nachforscher und unfreiwilliger Fahnder in eigener Sache auf. Mit dem Unterschied, daß das Verbrechen, für das in „Blow up“ noch eine Erklärung gefunden wird, rätselhaft bleibt. Josef Bierbichler, dem man seine Rolle als Bauer Theo auch abnähme, wenn er seine Darstellung noch mehr auf ein Brummeln oder Schulterzucken minimieren würde, ist der Gegenpol zum leicht egomanen Treiben der Zugezogenen und schließlich auch das Opfer des Verbrechens, das im Grunde keines ist.

„Winterschläfer“ ist der zweite Spielfilm des Autodidakten Tom Tykwer. Manischen Kinokonsum und frühe Super-8-Experimente gibt er als seine Wurzeln an. Seit 1988 über Jahre Mastermind des Kreuzberger Programmkinos Moviemento, drehte er nach einigen Stationen als Drehbuchlektor 1993 seinen ersten Spielfilm „Die tödliche Maria“. Sein dritter Film, der Episodenfilm „Lola rennt“, ist gerade abgedreht. Gudrun Holz

„Winterschläfer“. Regie: Tom Tykwer, mit Heino Ferch, Ulrich Matthes, Marie Lou Sellem, Floriane Daniel, Josef Bierbichler u.a. 124 Minuten, Deutschland 1997