: Gelernt, was Coyote will
Die Fortsetzung der Kolonialherrschaft mit „moderneren“ Mitteln: Ein Bericht über Lyrik, Unterdrückung und Zensur in Lateinamerika ■ Von Gordon Brotherston und Lúcia Sá
Lange bevor Kolumbus 1492 seine Segel hißte, klagten Dichter bereits über die Unterdrückung in jenem Teil der Welt, den wir als Lateinamerika kennen; Berichte in Nahuatl (Aztekisch), Maya, Qechua und anderen Sprachen belegen das. Seitdem haben Dichter immer wieder die herrschenden Verhältnisse kritisiert — und wurden immer wieder sowohl von den spanischen als auch den portugiesischen Kolonialherren und seit dem 19. Jahrhundert von vielen nachfolgenden nationalen Regierungen zum Schweigen gebracht. Hervorstechende Beispiele sind die Militärdiktaturen, die in Brasilien und im Süden (Chile, Argentinien, Uruguay) in den siebziger und achtziger Jahren dieses Jahrhunderts wüteten. Sie waren die Nachfolger der nicht weniger berüchtigten, aber primitiveren diktatorischen Regimes, die in früheren Jahrzehnten die Karibik und Zentralamerika heimgesucht hatten.
Das hartnäckige Überleben der indigenen Kulturen in den Anden und in Mexiko hat die üblichen Formen der Unterdrückung und Zensur dort verkompliziert. Mexikanische Indianer sehen ihre Sprache heute als den präzisen und poetischen Ausdruck einer Weltsicht mit vor- oder nichtwestlichen Normen. Und sie verweisen auf die immer größer werdende Bedrohung ihrer Kultur durch das spanischsprachige Bildungssystem, die politische Propaganda und den Kommerz. So schrieb der Nahuatl-Dichter Luis Reyes über die „coyotes“ oder Menschen nichtindianischer Abstammung in Mexiko: Vierhundert Jahre haben uns gelehrt/ was Coyote will.
In der qechuasprachigen Andenregion beklagt man ähnliche Entwicklungen und wehrt sich dagegen, wie süffisante Texte in den indigenen Sprachen über „Bekehrungen“ zum Spanischen in Ecuador belegen. In Peru ist Qechua schon lange zu einem Medium für Lieder und Gedichte geworden, die spanische Ausdrücke geschickt einbauen, um sie politisch zu neutralisieren.
Gleichzeitig waren sowohl die Andenstaaten als auch Mexiko mit direkter Zensur eher vorsichtig. In Mexiko wurde über das Massaker an unbewaffneten Studenten in Tlatelolco detailliert und offen geschrieben. José Emilio Pachecos Gedicht über dieses Ereignis bezieht sich auf den in Nahuatl geschriebenen historischen Bericht über das Massaker von Cortés an der Bevölkerung der Region auf genau derselben Stelle im Jahre 1521.
In „Canto general“, seinem Epos über den Kontinent, verhöhnte der Chilene Pablo Neruda vor einem halben Jahrhundert die Diktatoren der Karibik und Zentralamerikas, die „Verräter“, die ihre Länder an die US-Kapitalisten verkauften und jeden Einwand gegen diese Politik auf brutalste und sadistischste Weise zum Schweigen brachten. Der kubanische Dichter Nicolás Guillén tat das gleiche in einer Gedichtsammlung, die er „West Indies Ltd“ nannte. Und der aus seinem Land vertriebene Nicaraguaner Ernesto Cardenal fing das absolut Böse und die Absurdität dieser Regimes in seinem berühmten Gedicht „Somoza enthüllt Somozas Denkmal im Somozastadion“ ein:
Nicht, weil ich glaube, das Volk setzte mir ein Denkmal,
ich weiß schließlich besser als ihr, wer die Order gab.
Noch geb ich vor, so der Nachwelt erhalten zu bleiben,
ich weiß schließlich, daß eines Tages das Volk es zerschlagen wird:
Noch weil ich selbst mir im Leben dies Denkmal
hätt' setzen wollen, das ihr im Tod mir nicht setzt;
dies Denkmal steht hier, weil ich weiß, daß ihr es haßt.
(deutsch von Stefan Bacin und Kurt Marti)
In anderen Gedichten bezieht sich Cardenal direkt auf indigene Texte, vor allem der Nahuatl- und Maya-Sprache, um die Katastrophe der zentralamerikanischen Diktaturen in einen größeren Zusammenhang von Unterdrückung und mörderischem Zum-Schweigen-Bringen zu stellen. In „Katun 11 Ahau“ erinnert er in der Diktion des katun-Kalenderzyklus an die Unmengen der von europäischen Invasoren verbrannten Maya-Bücher:
Mit diesem katun/ weinen wir um die verbrannten Bücher/ um die aus dem Königreich Vertriebenen. Um den Verlust/ des Maises/ und unserer Lehren vom Universum.
Ähnliche Techniken benutzte auch der Salvadorianer Manlio Argueta, Autor zensierter Romane und Gedichte, der den größten Teil seines Lebens im Exil verbringen mußte.
Wie uns Nerudas Epos weiter lehrt, hat der Widerstand gegen die „Verräter“ häufig die sehr lateinamerikanische Form des Guerillakrieges angenommen, der mit Túpac Amaru (dem letzten Inka-Führer, d.Red.) und den Unabhängigkeitsbewegungen geboren wurde. Guerillakämpfer waren, wie Mao, oft Dichter, deren Arbeiten ihr Publikum notwendigerweise nur auf indirektem Wege erreichten. Die Lyrik des Peruaners Javier Heraud, der 1963 im Alter von 21 Jahren getötet wurde, war auch jenseits von Fragen nach ihrer politischen Botschaft von hoher Qualität.
Sowohl in Kuba als auch in Nicaragua haben Guerillabewegungen zum Sieg einer neuen Gesellschaftsordnung geführt, in der sowohl Guillén als auch Cardenal eine wichtige offizielle Rolle spielten und in der Dichtung durch staatliche Verlage weit verbreitet wurde.
Castros Kuba wie auch das sandinistische Nicaragua wurden für ihre diktatorische und totalitäre Haltung kritisiert. Der Testfall für Kuba war Heberto Padilla, der während der Batista-Diktatur im Ausland lebte. 1959 kehrte er zurück, um die neue Regierung unter Castro zu unterstützen, und verbrachte lange Jahre als Vertreter des Landes in Osteuropa. Viele Beobachter glauben, daß seine Erfahrung mit dem dortigen Staatssozialismus und dem Umgang mit den Dichtern, die sich ihm widersetzten, ihn schließlich dazu brachten, den „Inspektoren der Ketzerei“ bei sich zu Hause abzuschwören. Die Veränderung wurde deutlich in „Fuera del juego“ (1968; deutsch 1971: „Außerhalb des Spiels“), das zwar in einem staatlichen Verlag veröffentlicht wurde, allerdings mit einem distanzierenden Vorwort des Schriftstellerverbandes. Das Gedicht „Poetik“ macht das deutlich:
Die Wahrheit sagen,
wenigstens deine Wahrheit,
und dann
auf alles gefaßt sein:
daß man dir die geliebt Seite ausreißt,
daß man mit Steinwürfen deine Tür zertrümmert,
daß die Leute sich versammeln vor deinem Körper
wie vor einem Wunder,
wie vor einer Leiche.
(deutsch von Günter Maschke)
Padillo wurde verfolgt, verhaftet und verließ das Land später Richtung USA, nicht ohne zuvor zum cause célèbre der zahlreichen Gegner Kubas geworden zu sein. Es gibt keine Rechtfertigung für seine Behandlung, doch neigte die „freie Welt“ dazu, die politische Bedeutung seines Falles zu übertreiben, wenn man bedenkt, wieviel weniger Zensur Castro ausübte als so viele offen von den USA unterstützte Regimes in aller Welt.
Unter den permanenten militärischen Angriffen der USA und ihren Söldnern hatten die Sandinisten in Nicaragua (1979–1989) kaum Zeit oder Gelegenheit, politisch mißliebige Dichter systematisch zu diskriminieren. Ihre Gegner konzentrierten sich ohnehin eher auf die angebliche Feindseligkeit des Regimes gegenüber der Kultur und Sprache der Miskito-Indianer an der Atlantikküste. Gerade von den USA war das bemerkenswert scheinheilig, vergleicht man die unbeirrte und massive Unterstützung, die die USA zur gleichen Zeit den völkermordenden Regimes von Lucas Garcia und Rios Montt im benachbarten Guatemala gewährte (unter deren Ägide eine Maya-Siedlung nach der anderen zerstört wurde), mit den eher milden Maßnahmen der Sandinisten gegen die Miskito.
Worin die Missetaten Castros und der Sandinistas auch immer bestanden haben, sind sie doch absolut nicht mit denen der Diktaturen zu vergleichen, die im Süden des Kontinents und in Brasilien größtenteils mit Hilfe und nicht selten unter direkter Einflußnahme der USA in den sechziger und siebziger Jahren installiert wurden. Kissingers Freundschaft mit jenen, die die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allendes in Chile stürzten (in der westlichen Presse zumeist ignoriert), muß ebenso erwähnt werden wie sein Verhalten in Angola oder seine Verstrickung in die massenhafte Verkrüppelung der Kinder in Kambodscha und die Unterminierung der dortigen Gesellschaft. Es ist, wie Ariel Dorfman gesagt hat: Wie kann man von Versöhnung sprechen, solange das Ausmaß des Verbrechens weder allgemein bekannt noch zugegeben ist?
Der Schmerz über Millionen verlorene und ruinierte Leben, die direkt auf das Konto Pinochets und seiner Mitdiktatoren in Argentinien und Uruguay gehen, prägt die Gedichte von Raúl Zurita, der Zeuge einiger Greueltaten geworden war. Von der danteschen Diktion seines „Anteparaiso“ (1982, deutsch: „Vorhimmel“, DA Verlag) fand Zurita in seinem Zyklus „Canto a su amor desaperecido“ (1987; „Gesang für die verschwundenen Geliebten“) in den letzten Wochen der Pinochet- Ära zu einer noch intensiveren und genaueren Sprache.
In vielerlei Hinsicht eine Fortschreibung von Nerudas „Großem Gesang“ über die beiden Amerikas, gelingt Zuritas „Canto“, das Trauma der extremen Qual und Demütigung auszudrücken, indem er es mit korrelierenden Erfahrungen der indigenen Amerikaner, den Erfahrungen der seit Kolumbus systematisch zum Schweigen gebrachten und enteigneten Völker, verknüpft. Die einzelnen Strophen sind darin wie zu Gräbern zusammengefügt, je sechs im Blocksatz gesetzte zwölfzeilige „Grabsprüche“ pro Seite voller Pathos und Qual.
In den schlimmsten Zeiten der brasilianischen Militärdiktatur (1964–1978) wurde die Zensur von Presse, Fernsehen, Musik, Theater und Büchern mit aller Härte betrieben — nicht jedoch von Gedichten, für die sich die Zensoren offenbar weniger interessierten. Dennoch wurden Dichter wie Ferreira Gullar und Thiago de Mello ins Exil getrieben, und ihre Arbeiten zirkulierten in Brasilien nur in kleinen, inoffiziellen Auflagen. Die Wirtschaftlichkeit von Gedichtveröffentlichungen verschlechterte sich unter der Diktatur, weshalb Afonso Henriques Neto und Francisco Alvin ihre Lyrik vervielfältigten und auf der Straße verkauften.
Die gesammelte Wut der Zensoren traf die Lyrik in Brasilien in den populären Liedern, einem wichtigen Element lateinamerikanischer Kultur. Viele Lieder von Chico Buarque wurden gänzlich verboten, andere stark gekürzt oder verändert. In „Cálice“, das er zusammen mit Gilberto Gil komponierte, thematisiert er das durch einen, für seine ganze Arbeit typischen, Sprachwitz: Der biblischen Formulierung „Vater, nimm diesen Kelch von mir“ entnahm er cálice (Kelch), das lautlich dem Ausdruck cale-se (halt den Mund), ähnelt. Die Zensoren ließen sich nicht täuschen und verboten das Lied, das nicht einmal mehr als Instrumentalfassung gespielt werden durfte.
Im Fall Buarque reagierten die Zensoren auf subtilste politische Details. In „Tanto Mar“ („So viel Meer“) erlaubte der Refrain „pa“ — ein typisches Füllwort im Portugiesischen — den Zensoren, darin die Feier des Endes der Salazar-Caetano- Diktatur in Portugal zu erkennen; sie setzten das Lied auf den Index. Auch sogenannte sittliche Themen konnten zum Problem werden. So mußten im Lied „Bárbara“, aus dem Theaterstück „Calabar“, die lesbischen Konnotationen gestrichen werden; das Stück wurde dann in letzter Minute insgesamt verboten. Die Situation spitzte sich für Buarque derart zu, daß alles verboten wurde, was seinen Namen trug. Er veröffentlichte daraufhin unter Pseudonymen (Julinho da Adelaide, Leonel Paiva), die jedoch schnell entschlüsselt wurden.
Chico Buarque war durchaus nicht der einzige, der unter der brasilianischen Militärzensur zu leiden hatte. Bei den Aufnahmen zu „Escravos de Jó“ („Hiobs Knechte“) und „Clube da Esquina“ („Der Club an der Ecke“) wurde Milton Nascimento gezwungen, ganz auf den Text zu verzichten. Geraldo Vandre wurde so brutal gefoltert, daß er nicht mehr schreiben und auftreten konnte. Sein „Caminhando“, das vor dem Verbot ungeheuer erfolgreich war, wurde zu einer Art Hymne für den Widerstand gegen die Diktatoren. Caetano Veloso und Gilberto Gil gingen schließlich nach London ins Exil, wo Gil mehrere Lieder auf englisch schrieb, unter anderem „London, London“ und „It's a long way“.
Alle diese Dichter-Sänger entwickelten eine große Solidarität mit ihren Kollegen in ganz Spanisch-Amerika, besonders mit den Opfern der Diktaturen im Süden, vor allem Violeta Parra, von Pinochet in Chile zum Schweigen gebracht, und Victor Jara, der brutal ermordet wurde. Die Argentinierin Mercedes Sosa übersetzte Lieder von Chico Buarque und Milton Nascimento und machte sie damit auch in den spanischsprachigen Ländern Lateinamerikas bekannt. Ein wichtiger Faktor dieser Allianz waren darüber hinaus die Nueva- Trova-Musiker in Kuba, darunter Silvio Rodriguez und Paco Milanés, die die Brasilianer häufig zur Zusammenarbeit einluden.
All dies zeigt, wie auch unter härtesten politischen Bedingungen gemeinsame Lieder und Gedichte die Solidarität innerhalb Lateinamerikas stärken können.
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