100-Tage-Programm für Rot-Grün

Auf ihrem wirtschaftspolitischen Kongreß diskutierten die Bündnisgrünen über ihren umstrittenen Programmentwurf. Bundesvorstand sicherte Änderungen und Ergänzungen zu. Realos sind weiterhin skeptisch  ■ Aus Hannover Dieter Rulff

Zum 1. Januar 1999 wird die KFZ-Steuer vollständig abgeschafft und die Mineralölsteuer erhöht. Zur gleichen Zeit werden die Mißbräuche bei den 610-Mark- Verträgen unterbunden, die aktive Arbeitsmarktpolitik wird deutlich ausgebaut und die Sozialversicherungsbeiträge werden spürbar gesenkt. Dieses 100-Tage-Programm einer rot-grünen Bundesregierung versprach die Sprecherin der Bundestagsfraktion der Bündnisgrünen, Kerstin Müller, auf einem wirtschaftspolitischen Kongreß ihrer Partei, der am Wochenende in Hannover stattfand.

Die Ankündigung steht also unter einem doppelten Vorbehalt: Rot-Grün muß die Wahlen gewinnen, und die SPD muß diesem Maßnahmenkatalog zustimmen. Beides ist noch nicht sicher. Sicher ist hingegen, daß der Grünen-Bundesvorstand hinter dieser Initiative steht. Ob auch die Partei diese Position teilt, ist nicht ganz so sicher. Denn vieles von dem, was der Vorstand an Programmpositionen in den letzten drei Wochen verkündet hat, ist in den Landesverbänden, vor allem beim realpolitischen Flügel der Grünen, auf zum Teil heftige Kritik gestoßen. Vor allem der außen- und verteidigungspolitische sowie der wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Teil des Programms wurden mit so wenig schmeichelhaften Begriffen wie „traumtänzerisch“, „Verbalradikalismus“ und „Regierungsverhinderungsprogramm“ belegt.

Und so dürfte auch der von Kerstin Müller verkündete sofortige und deutliche Ausbau der aktiven Arbeitsmarktpolitik zwar einerseits auf wohlwollendes Kopfnicken stoßen. Daß aber im Programm seine Finanzierung an das Ökosteueraufkommen gebunden wird, ruft andererseits eher Kopfschütteln hervor. Denn dieses Aufkommen ist in den Konzepten bereits für die Senkung der Lohnnebenkosten und die Strukturanpassungen der Wirtschaft verkalkuliert. Und auf solides Finanzgebarden hält man bei den Grünen mittlerweile einiges.

Es ist nicht der einzige Dissens, der die Partei umtreibt, seit der Programmentwurf auf dem Tisch liegt: Ob man am Leitbild Vollbeschäftigung festhalten soll und zu diesem Zweck die Schaffung eines „dritten gemeinwirtschaftlichen Sektors des Arbeitsmarktes offensiv angeht“, wie es der Parteilinke Frieder O. Wolf fordert, oder eher von der gebrochenen Struktur zukünftiger Erwerbslebensläufe ausgeht wie die Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, ist offen. Während Ordnungspolitiker wie Wolf und die Bundestagsabgeordnete Buntenbach an den tariflichen Standarts festhalten und Arbeitszeitverkürzungen durch schärfere rechtliche Rahmenbedingungen bewirken wollen, setzt Fraktionssprecher Fischer stärker auf die Autonomie der Tarifpartner. Und die sozialpolitische Sprecherin, Andrea Fischer, denkt schon mal über die Einführung von Niedriglöhnen in begrenzten Beschäftigungssektoren nach.

Kerstin Müller warnte am Samstag davor, das Programm mit der „Koalitionsschere“ im Kopf zu schreiben, es gelte langfristige Perspektiven mit den kurzfristig umsetzbaren Einzelschritten zu vermitteln. Doch treibt dieses Vermittlungsproblem die Grünen eher bei der verteidigungspolitischen Vorgabe des Vorstandes um, die Nato aufzulösen. Das Feld der Wirtschaft hingegen ist von unterschiedlichen Lagebeurteilungen geprägt. Die Globalisierung als Chance begreifen, wie es jüngst Oskar Lafontaine tat – das findet Grünen-Sprecher Jürgen Trittin schlichtweg „Blödsinn“. Die Neoliberalen würden die Globalisierung als Chance zur Deregulierung sehen. Demgegenüber warnte der Vorstandssprecher der Heinrich- Böll-Stiftung, Ralf Fücks, die Globalisierung sei kein ideologisches Kampfinstrument. Dem Programm der Grünen hielt er vor, daß es den Eindruck erwecke, als könnten die anstehenden Aufgaben im nationalstaatlichen Rahmen erfüllt werden.

Auch der Sprecher der baden- württembergischen Landtagsfraktion, Fritz Kuhn, vermißte eine klare Haltung zur Globalisierung und den daraus erwachsenden Folgen. Er bemängelte zudem die hohen Abgabenlasten, die mit dem Programm verbunden seien und wiederholte seine Warnung, daß es im Falle der Umsetzung zur „größten Kapitalflucht“ aus Deutschland komme. Stiefmütterliche Behandlung der Marktwirtschaft wurde an diesem Wochenende ebenso beklagt wie das fehlende technologische Aufbruchsignal. Vertreter der Wirtschaft bemängelten das pauschale Bild, das im Grünen-Programm gezeichnet werde, und die ideologische Prägung des Textes.

Nun war die lediglich hundertköpfige Runde, die sich in Hannover versammelte, zwar fachkompetent, aber keineswegs repräsentativ für die Stimmung und Positionierung der Parteibasis. Deren Kritik sieht mancher im Bundesvorstand wiederum „links“ vom Programm angesiedelt. Woraus folgt, daß sich der Vorstand selbst in der Mitte verortet. Im realpolitischen Lager ist man noch unschlüssig, ob man einen eigenen Alternativentwurf zum Vorstandsprogramm formuliert oder es um des Parteifriedens willen bei Änderungsanträgen beläßt. Man schaut nun darauf, wie offen sich der Vorstand für die geäußerte Kritik zeigt.

Realpolitischer Unmut hatte sich in den letzten Wochen an der Vorstandssprecherin Gunda Röstel entzündet. Denn diese hatte den Programmentwurf mitgetragen. Röstel versprach nun, daß noch eine Reihe von Änderungen und Ergänzungen in das Programm einfließen werden. Der Vorstand werde das weitere Programm in einer großen Runde abstimmen. Allerdings sah das zuständige Vorstandsmitglied, Regine Barth, nicht, daß es noch „substantielle Änderungen an der Grundausrichtung“ des Programmes geben werde.