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Aus für Bremer Stadtmusikanten

■ Obdachlose im Wall-Tunnel bekamen Räumungsverfügung / Stadtamt will notfalls mit Gewalt räumen / Wer sich beschwert hat, bleibt unklar / Passanten fühlen sich nicht gestört

Offizieller Besuch im Berberlager. Zwei Beamte des Stadtamtes suchen „Herrn Hans-Joachim Schulzig, wohnhaft z.Z. Bischofsnadeltunnel“. Sie wollen die angekündigte Räumungsverfügung zustellen (vgl.taz vom 7.11.). Neben Herrn Schulzig sollen zwei weitere Obdachlose bei „Androhung von unmittelbarem Zwang“ihr Lager aus Zelt, Schlafsack, Isomatten und Lebensmitteldepot wegräumen. Begründung: Laut Räumungsverfügung sollen sich die ansässigen Geschäfstleute beschwert haben.

Von wegbleibenden Kunden und Geschäftsschädigung ist die Rede. Die Geschäfstleute sind von der Anwesenheit der Berber nicht gerade erbaut: „Tagsüber stören sie uns schon. Nachts können sie von mir aus bleiben“, sagt Friseur Edmund Graus. Die Geschäftsleute wollen sich jedenfalls nicht beschwert haben.

Von den drei Berbern sind nur zwei in ihrem „Wohnzimmer“. Sie weigern sich, die amtliche Verfügung entgegenzunehmen oder gar zu unterschreiben. „Sie behindern eine Amtshandlung“, beschweren sich die sichtlich nervösen Stadtbeamten bei den anwesenden Pressevertretern. Sprachens, knallten den störrischen Berbern die Verfügung vor die Füße und schlichen genervt von dannen.

Das Winterlager der Obdachlosen beinträchtige den „Gemeingebrauch durch die Allgemeinheit über das zulässige Maß hinaus“und außerdem würde sich eben diese Allgemeinheit durch „die Auswirkungen ihres Aufenthaltes, wie Schmutz, Gerüche und die zum Teil erfolgten lautstarken Äußerungen und Ansprechen“gestört fühlen, so die zürnende Amtslyrik. Eine Passantin: „Ich komme hier täglich vorbei. Die sind mir nie unangenehm aufgefallen.“Die Verfügung findet sie blöd. Und weil die Berber immer so schön Musik machen, wünscht sie sich als open air Ständchen einen Blues.

Fahrradkurierin Sandra muß auch spät abends noch durch den Tunnel: „Die Männer dürfen auf keinen Fall vertrieben werden. Wenn ich abends hier durchkomme ist es richtig gemütlich. Die zünden Kerzen an und machen Musik.“Und Anwohnerin Anne Köper findet es ganz normal, daß sich die Obdachlosen „ihre eigenen Nischen in der Stadt schaffen“. Sie ärgert sich darüber, daß das Amt „alles clean haben will“. Und Berber Peter spielt mit der Titelmusik aus Garry Coopers „Zwölf Uhr Mittags“auf.

Derweil ist der Dritte im Bunde, Helmut Molitor, mit der Gitarre in der Stadt unterwegs, um die nächste Mahlzeit zu „verdienen“. Der stellvertretende Stadtamtsleiter Joachim Becker weiß zwar auch nicht, wer sich über die Obdachlosen beschwert haben soll, aber er ist fest entschlossen, den Tunnel zu räumen. Auf die Frage, wann das geschehen soll, will er sich nicht festlegen: „Wenn die Lage angepaßt ist, ziehen wir das durch“.

Schließlich macht das Gerücht die Runde, die Deutsche Städtereklame könnte Anzeige erstattet haben. Sie vermietet die Schaufenster im Tunnel.

Die Berber wundern sich, daß sie aus der geschützten Ecke im Tunnel vertrieben werden sollen. „Schließlich macht die Stadt Werbung mit den Stadtmusikanten. Esel, Hund, Katze und Hahn waren auch so was wie Obdachlose.“Berber Molitor ist aus Überzeugung obdachlos, seit 18 Jahren. „Ich kann nicht in geschlossenen Räumen schlafen“sagt er. Gemeinsam stimmen die Tunnelbewohner ein Lied an: „Let it be.“

Orhan Calisir/schuh

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