: Moskau stoppt Ausgabe neuer Pässe
In der Russischen Föderation soll es künftig nur noch „Rußländer“ geben – ohne Angaben über die Nationalität. Was als Fortschritt gedacht war, stößt auf den Protest autonomer Republiken und Gebiete ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
„SE“ notierte der Dekan der Leningrader Universität oben auf den Antragsformularen einiger Abiturienten. „SE“ stand für „verdeckter Jude“. Dabei ließ er es nicht bewenden. Akribisch ging der Akademiker selbst den familiären Verästelungen zweiten, dritten und vierten Grades nach. Auch die nicht-russischen Nationalitäten wurden einer genaueren Durchleuchtung ausgesetzt. Das geschah in den siebziger Jahren auf Anordnung von höchster Stelle. Nach eigenem Bekunden hatte die UdSSR indes die Nationalitätenfrage längst gelöst.
Nach der Auflösung der Sowjetunion wechselten die russischen Behörden die Pässe ihrer Bürger nicht sofort aus. Vor wenigen Wochen tauchten die ersten neuen russischen „Dokumente“ auf, die Präsident Jelzin feierlich jungen Leuten im Kreml überreichte. Was gut gemeint war, setzte jedoch eine Welle des Protestes in Bewegung. Das Innenministerium sah sich gezwungen, sofort zu reagieren. Die Ausgabe der Papiere wurde gestoppt, und nun wird sich der Gesetzgeber erneut mit dem Problem befassen müssen.
Diskriminierender Passus wurde gestrichen
Anlaß: Die neuen Personalausweise enthalten nicht mehr den berüchtigten „Punkt 5“, unter dem früher die nationale Zugehörigkeit festgehalten wurde. Mit 16 konnte sich jeder Sowjetbürger entscheiden, welcher Nationalität er angehören wollte. „Punkt 5“ geht auf eine Anordnung Stalins von 1932 zurück, die weniger darauf abzielte, die nationale Identität der Bürger zu schützen, als vielmehr eine Handhabe für mögliche Diskriminierung bot. Heute beschränkt sich die Eintragung auf die Staatsbürgerschaft. Bürger der Russischen Föderation wurden im Unterschied zu ethnischen Russen – „russki“ – nun Rußländer – „rossijanin“.
Ein notwendiger und begrüßenswerter Schritt in Richtung Rechtsstaatlichkeit, mit dem Rußland sich der Praxis in den entwickelteren Ländern annähert und der bis heute offenen Diskriminierung einiger Minderheiten zumindest die offizielle Grundlage entzieht. Indes: „Der Osten ist eine höchst feinsinnige Angelegenheit“, wie eine russische Redensart heißt. Die autonomen Republiken und Gebiete sind mit der neuen Praxis nicht einverstanden. Allen voran stoppte der Staatsrat der turksprachigen Republik Tatarstan die Paßverteilung. Moskau hatte mit Tatarstan, das sich anschickte, aus der Föderation auszusteigen, 1993 nach hartem Ringen einen Vertrag abgeschlossen, der der Republik weitreichende Autonomie und eine doppelte Staatsbürgerschaft zugesteht.
„Assimilation und gewaltsame administrative Russifizierung“, warf das tatarische Parlament Moskau vor. Besonders übel nahm man der Zentrale, daß die Paßeintragungen sich nur des Russischen bedienen. Die gleichen Einwände kamen auch aus anderen Gebieten, wo nationale Minderheiten mit eigener Sprache leben. Nun denkt man in der tatarischen Hauptstadt Kasan daran, ein eigenes Identitätspapier herauszugeben. Mehrere Entwürfe sind im Gespräch. Einer sieht vor, den Moskauer Kreml durch die Silhouette von Kasan zu ersetzen.
Nach Artikel 26 der Russischen Verfassung hat jeder Bürger das Recht zu entscheiden, ob er seine Nationalität eintragen lassen möchte. Darauf beruft sich der tatarische Präsident Mintimer Schaimijew, der dem Bemühen der russischen Führung, Diskriminierung abzubauen, nicht viel Vertrauen entgegenbringt: „Europa hat eine Konvention verabschiedet, die die Rechte nationaler Minderheiten schützt, eine Charta, die deren Sprache und Kultur vor dem Untergang bewahren soll.“ Rußland habe kein einziges Gesetz angenommen, das ausdrücklich die Rechte der nicht-russischen Völker schütze, „und ist der europäischen Konvention auch nicht beigetreten“, wendet Schaimijew ein.
Auch Kommunisten sind für rassische Reinheit
Das Mißtrauen sitzt tief. Moskau wolle über den Weg der einheitlichen Staatsbürgerschaft langsam die Zugeständnisse an die kleinen Völker abbauen. Das mag nicht beabsichtigt sein, der Umstand jedoch, die nationalen Minderheiten vor dem Paßprojekt nicht zu konsultieren, wirft Fragen und Zweifel auf. Von Respekt zeugt es nicht.
Passenderweise sitzen die Gegner der neuen Praxis in einem Boot mit Nationalisten und Kommunisten des russischen Parlaments, die ebenfalls darauf bestehen, „Punkt 5“ zu erhalten. Den imperial gesinnten Russen, die oft auch wüste Antisemiten sind, geht es um die Überlegenheit des eigenen Volkes und das rassische Reinheitsgebot. Nicht um die Wahrung von Identität, sondern einen vereinfachten Mechanismus der Selektion. Wieder steckt Rußland im Teufelskreis der Nationalitätenfrage.
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