Die Erstsemester bleiben sitzen

In Gießen und Marburg streiken sie schon, in Frankfurt wohl bald auch: StudentInnen und ProfessorInnen wehren sich gegen überfüllte Hörsäle und unzumutbare Arbeitsbedingungen. Sie verlangen Bildung für alle, nicht für Eliten  ■ Von Heide Platen

Vor dem Hauptgebäude der Gießener Justus-Liebig-Universität leuchten die Laternen. Die 1.000 StudentInnen tragen ihre Lichtlein am Montag abend in Platanenblätter gehüllt, im Bierkrug und in bunten Papiermonden. Manche haben sich Halloween- Kürbisse geschnitzt.

Und allüberall leuchtet das „T“. Das steht hier nicht für Telekom, sondern für den heiligen Antonius. Es wird vor allem von den Ägyptologen illuminiert. Sie haben in Anspielung auf den christlichen Eremiten und auf die weltberühmte Papyrisammlung der Justus-Liebig-Universität ihre Laternen gebastelt.

Die Veranstalter des Lampionumzugs haben es auch sonst mit den Heiligen. Sie meldeten keine Demonstration, sondern einen Sankt-Martins-Zug an. Der braucht weniger Polizeibegleitung und ist eigentlich mehr ein Martina-Zug.

Vorneweg traben zwei Reiterinnen.

Und dem Gesang, „Rabimmel, rabum!“, tut es auch sehr gut, daß 56 Prozent der in Gießen Studierenden weiblich sind. Ihre Stimmen klingen nicht ungeübt durch die Innenstadt. Der Fachbereich Musik hatte am Mittag während der Vollversammlung im dichtbesetzten Audimax schon mal die richtigen Töne angegeben. Der Lehrkörper wurde in der Person des Dozenten Anselm Richter zum Klangkörper und übte mit saalfüllendem Bariton und a capella respektlosen Chorgesang ein: „Ich geh' mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir! Oben regiert eine Birne, und unten streiken wir!“

Und das nun schon in der zweiten Woche und mit unerwartet großer Zustimmung von Professoren und Dozenten. Eine Kunstpädagogikprofessorin mischte sich in die studentische Diskussion ein und nannte den Streik „eine Gelegenheit, sich politisch zu bilden“. Es fehle aber an Streikposten. Sie forderte ihre Studentinnen rigoros zur Teilnahme auf. Wer wegbleibe und bummele, statt sich aktiv zu beteiligen, müsse ab Donnerstag wieder bei ihr in der Vorlesung sitzen und Scheine machen.

Der Gießener Universitätspräsident Heinz Bauer, kurz vor dem Ruhestand, hatte angesichts überfüllter Hörsäle, fehlender Professorenstellen und leerer Kassen schon in der vergangenen Woche gesagt: „Ich wundere mich, daß Sie erst jetzt streiken!“ Er beklagte die finanzielle Notlage, in der es nicht einmal mehr gelinge, Löcher zu stopfen, geschweige denn die Qualität von Forschung und Lehre zu verbessern: „Wir lassen es durchs Dach regnen.“

Das tut es in Gießen nicht nur im übertragenen Sinne. Im Hauptgebäude der Uni in der Innenstadt müßte dringend das Dach repariert werden. Bauer schläft seit Streikbeginn in der Universität und erbat nur für seine Frau Durchlaß, um ihm „eine Matratze“ zu bringen.

Sein Nachfolger Stefan Hormuth, der das Amt Mitte Dezember antritt, ist ebenfalls auf der Vollversammlung erschienen, um „sehr schnell alles“ über seinen neuen Wirkungsbereich zu lernen. Sein Vorgänger Bauer hatte den StudentInnen geraten: „Überlegen Sie sich genau, was Sie wollen!“ Ohne konkrete Forderungen seien die Studentenproteste vor acht Jahren sehr schnell wieder verpufft. Bei so viel Wohlwollen erklärten sich die StudentInnen im Gegenzug bereit, einen Minimalbetrieb der Verwaltung zuzulassen.

Zwei Stunden dauerte die Debatte der präsidial so gut beratenen Vollversammlung am Montag. Und trotz Martina-Zug und Frauenmehrheit der Lernenden im Audimax ging eine halbe Stunde über dem Versuch dahin, eine Quotierung der Lehrenden in den Forderungskatalog aufzunehmen. Die Übermacht von 290 Professoren gegenüber nur 27 Professorinnen, meinte allerdings ein Student, interessiere ihn derzeit nicht. Wo, bitte sehr, solle er seine Scheine herbekommen, wenn eine Dozentin schwanger werde und kein Geld für eine Vertretung da sei? So blieb es vorerst bei drei Hauptforderungen: demokratische Umstrukturierung und Autonomie der Hochschulen, mehr Geld und keine Evaluierung der Institute nach Leistung sowie mehr Rechte für die Studierenden. Die Frauenfrage wurde in eine abendliche Arbeitsgruppe verlagert.

Tagsüber ist das Asta-Büro die Streikzentrale. Irene Einolf reißt die Fenster auf: „Hier stinkt es!“ Die resolute Sekretärin des Asta der Gießener Justus-Liebig-Universität wedelt den Zigarettenrauch fort. Nein, beruhigt Asta- Mitglied Ralph Wildner, sie meint's nicht böse: „Die Irene ist die Seele der Universität.“ Und die nimmt es auch nicht übel, daß ihr Arbeitsplatz zum Durchgangszimmer, zur Auskunftei, zum Rauchsalon, zur Imbißbude und nun auch noch zur Pressestelle umfunktioniert wird.

Den Streik betrachtet Irene Einolf mit grundpessimistischem Wohlwollen: „Na, vielleicht bringt das ja mal ein bißchen was.“ Das hoffen Wildner und seine MitstreiterInnen Felix Stumpf und Maria Bethke doch sehr. Alle drei sind sie im Asta, schlafen wenig, rauchen viel und sind ständig auf Achse.

Sie haben sich die Berliner Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog zur Bildungspolitik auf ihre Art angeeignet und sind dem Wunsch zu engerer Zusammenarbeit der Universitäten mit der Privatwirtschaft „ganz praxisbezogen“ nachgekommen. Maria Bethke grübelt während des Laternenzugs, ob sich Eisdiele oder Reformhaus nicht als Sponsor für die Streikkasse gewinnen ließen. Es werden auch Naturalien angenommen. Ein Baumarkt stiftete die Dachlatten für die Transparente zur heutigen Großdemo in Wiesbaden.

Die drei vom Asta entsprechen außerdem durchaus dem neuen Elitebegriff des Präsidenten. Sie sind nicht auf das Bafög angewiesen. Das, haben sie festgestellt, richtet sich allerdings gegen ihre Hauptforderung, die „Demokratisierung der Universität“: Bafög- Empfänger nämlich haben keine Zeit, in der Studentenvertretung mitzuarbeiten, weil sie den wenigen noch verbliebenen Jobs hinterherjagen müssen.

Die Herzog-Rede ist auch Gegenstand einiger der zahlreichen von Studenten und Professoren angebotenen Alternativveranstaltungen. Im Haus E sind derzeit nicht nur afrikanische Hütten zu sehen und „Die Geister der Kalahari“ zu spüren. Im ersten Stock zerlegt der Gesellschaftswissenschaftler Klaus Fritzsche den Vortrag des Bundespräsidenten mit einer kleinen Gruppe Interessierter Satz für Satz. Die Textanalyse gerät zur Erkenntnis: „Das ist für Eliteuniversitäten und gegen die Chancengleichheit gerichtet.“

Und: „Denen, denen es jetzt schon schlecht geht, wird es noch schlechter gehen.“ Das, merkt Fritzsche maliziös an, würden auch in Zukunft nicht die Professoren, sondern zuerst die Studenten sein, die in der Rede ebensowenig wie die Frauen vorkommen. Nein, auf „vermintes Gelände“ habe sich Herzog nicht gewagt, sondern er liege „im Mainstream bis hin zu den Grünen“. Während Fritzsche oben noch doziert und sich in der Innenstadt der Laternenzug formiert, wird überall in den Universitätsgebäuden gewerkelt.

Lackgeruch zieht durch den Treppenflur von Haus E. Studentinnen sprühen Ordnerbinden und Transparente. Die Erstsemster sind besonders eifrig. Sie hatten den Streik vor zwei Wochen ausgelöst, als sie sich weigerten – wie in den vergangenen Jahren üblich geworden –, die Hörsäle zu verlassen, um Platz für die älteren Semester zu schaffen.

Die Chemiker und Physiker experimentieren an diesem Abend mit Licht und verwandeln ihr Gebäude durch Ein- und Ausschalten der Lampen zum Riesentransparent. Alle Fenster sind dunkel bis auf jene, die ein großes SOS bilden. Zwischen den weitverstreuten Gebäuden am Rande des Stadtwaldes irrt währenddessen ein Zweitsemester durch die Dunkelheit: „Wird hier immer noch gestreikt? Ich muß doch meine Hausarbeit abgeben!“

Die Kommilitonin landet schließlich unverrichteter Dinge und ganz gegen ihren Willen in dem Laternenzug, der die Busse, „Auch das noch!“, auf dem Innenstadtring blockiert.

Am Ende wird dann, „Rabimmel, rabum!“, bekanntgegeben, daß auch die Vollversammlung der Marburger Philipps-Universität den Streik beschlossen hat. Die Kölner Pädagogische Hochschule und einige Fachhochschulen, so Ralph Wildner, „überlegen noch“. In der Frankfurter Universität wird morgen abgestimmt. Dort outete sich bereits gestern die Juristische Fakultät, die in Gießen und Marburg nicht mitstreikt, als Spitze der Bewegung.

StudentInnen und ProfessorInnen richteten scharfe Angriffe gegen ihren Universitätspräsidenten Werner Meißner und warfen ihm Opportunismus vor. Zur Demonstration gegen die derzeitige Bildungspolitik, Motto: Bildungsfighter statt Eurofighter“. Heute werden in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden 30.000 Menschen erwartet.