: Louise Woodward ist auf freiem Fuß
Richter verhängt Strafe in Höhe der Untersuchungshaft. Der Fall des 19jährigen britischen Au-pair-Mädchens berührt Grundfragen der US-Gesellschaft, ihres Umgangs mit Kindern – und des Justizsystems ■ Aus Washington Peter Tautfest
Das von einem Geschworenengericht wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilte 19jährige britische Au-pair-Mädchen Louise Woodward ist frei. Richter Hiller Zobel kassierte am Montag abend das Urteil, erkannte auf Totschlag statt Mord und legte das Strafmaß auf 279 Tage fest – die Zeit, die Woodward in Untersuchungshaft verbracht hatte.
Louise Woodward hatte getan, was Tausende ihrer Altersgenossinen aus Europa tun, sie schob zwischen Schulabschluß und Studienaufnahme ein Jahr in den USA ein. Als Kinderbetreuerin bei der Familie Eappen in Cambridge, Massachusetts soll sie dann getan haben, was Abertausende von Eltern, Tagesmütter, Kindermädchen in Krisensituationen tun: Sie soll die Geduld mit dem schreienden Kind in ihrer Obhut verloren und den kleinen Matthew geschüttelt haben, so lange und so doll, daß der 18monatige an den Folgen des Schleudertraumas und eines Schädelbruchs starb. Louise Woodward wurde angeklagt und ein Geschworenengericht fand sie des Mordes schuldig. Für Mord gibt es lebenslänglich, mindestens 15 Jahre hätte die 19jährige absitzen müssen, bevor sie für vorzeitige Haftentlassung in Frage gekommen wäre. Jetzt hat der Richter die Angeklagte in die Freiheit entlassen. Sie hat damit nicht einmal so lange im Gefängnis gesessen, wie Matthew Eappen alt war, kommentierte die Anklage bitter. Louises Anwälte aber wollen auch gegen dieses Urteil Berufung einlegen, sie argumentieren, das Kind sei an einer Verletzung gestorben, die es sich schon viel früher zugezogen habe. Auch die Staatsanwaltschaft will Revision einlegen. Woodward hat ihren Paß abgeben und sich verpflichten müssen, in Cambridge zu bleiben.
Seit dem Prozeß gegen O.J. Simpson hat kein Verfahren – nicht einmal das gegen den Bombenattentäter von Oklahoma City – eine derartige Resonanz in der Bevölkerung gefunden. Die Übertragung der Verhandlung durch das Fernsehen hat ihren Teil dazu beigetragen. Dabei hatte sich die US-amerikanische Fernsehgesellschaft Court TV an dem Fall zunächst uninteressiert gezeigt.
Gerichtsverfahren sind in den USA zur Arena gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geworden, viel stärker als die dafür vorgesehenen Foren in den Parlamenten. Interessant ist ein Prozeß dann, wenn er Grundfragen des gesellschaftlichen Lebens berührt. Der Fall O.J. Simpson berührte das Rassenverhältnis, und Louise Woodwards Fall berührte den Umgang des Landes mit seinen Kindern.
In den 50er und 60er Jahren konnte ein Einzelverdiener eine Familie unterhalten, der Platz der Ehefrau war bei den Kindern – die Welt war in Ordnung. In den 70er und 80er Jahren rümpfte das puritanische Amerika gerne die Nase über jene, die als sogenannte DINKs (Double Income, No Kids) durch ein Leben aus Wohlstand und Verpflichtungslosigkeit gingen. Spätestens seit den 90er Jahren hat doppeltes Einkommen einen ganz anderen Geschmack, den der bitteren Notwendigkeit. Doch was wird aus den Kindern?
Die USA haben kein entwickeltes System öffentlicher und bezahlbarer Kindergärten. Kinderbetreuung ist weitgehend Privatsache – die der Eltern und die von privaten Anbietern. In vielen Kindertagesstätten geht es nicht anders zu als in den Altersheimen des Landes – die den Institutionen anvertrauten Menschen sind Kostenfaktoren, nicht Kunden, Mißbrauch und Vernachlässigung sind häufig. Eltern suchen nach Tagesmüttern und überlassen ihre Kinder Unbekannten – mit schlechtem Gewissen zwar, aber ohne Alternative.
Und dann hatte der Fall noch eine Dimension: Nach Lesart des konservativen Amerika ist die Wurzel aller Übel im Verfall der Familie zu suchen. Die Eappens, beide Ärzte, bekamen Anrufe und Kommentare zu hören, die die Berufstätigkeit der Frau kritisierten. Die Anforderungen des modernen Arbeitslebens, traditionelles Familienbild und unzureichende Institutionen das waren die eigentlichen Themen dieses Prozesses, über die in den Talkshows und Leserbriefseiten debattiert wurde.
Schließlich stand wie in allen großen Prozessen der letzten Jahre das US-Justizsystem selbst auf dem Prüfstand. Wenn der Freispruch für O.J. Simpson als schwärzeste Stunde des US-Rechtssystems und die Verurteilung Timothy McVeighs in Oklahoma City als dessen Rehabilitation galt, so wurde die Verurteilung Louise Woodwards als Fehlurteil empfunden. Daß der Richter das Urteil der Geschworenen kassierte, wird als beschämende, aber zugleich mutige Korrektur eines fehlerhaften Systems gesehen.
Anzumerken bleibt, daß die Publizität des Falles, die letztlich zur Korrektur geführt hat, von einer Reihe von Umständen abhing. Wäre Louise Woodward nicht weiß und Ausländerin gewesen und die Eappens nicht guter Mittelstand, hätte der Fall kaum diese Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
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