: Eine Gewerkschaft, die nur sechs Wochen alt wurde
■ taz-hamburg-Serie, Teil 4: Kommunisten und Sozialdemokraten gründen im Mai 1945 die SFG Von Bernhard Röhl
„Ein Hundsfott, wer jetzt den Führer verläßt“, stand im Mai 1945 an der Außenwand des Hauptbahnhofes auf der Steintorbrücke zu lesen. „Nazis müssen fliegen aus Behörden und Betrieben“, forderten dagegen Inschriften an vielen Wänden in Hamburg.
„Was Hamburg ist, verdankt es dem Führer. Und was Hamburg wird, das wird es ebenfalls nur dem Führer verdanken“, hatte nach Beginn der Hitler-Diktatur das Hamburger Tageblatt, das Propagandaorgan der NSDAP, verkündet. Zwölf Jahre später war klar, was die damals 1,1 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner dem „Führer“ verdankten: Die vielen Toten und die zertrümmerte Stadt.
Bereits in den letzten Monaten vor der Befreiung trafen sich in der Illegalität lebende Antifaschisten, um Vorschläge, Pläne und Forderungen für die Zukunft zu entwerfen. Gleich nach der Kapitulation Hamburgs, am 5. und 6. Mai 1945, kamen frühere Mitglieder von SPD und KPD zu Kontaktgesprächen zusammen. Sie diskutierten über Möglichkeiten politischer und gewerkschaftlicher Tätigkeit unter der britischen Militärregierung. Es herrschte Übereinstimmung darüber, daß in absehbarer Zeit politische Aktivitäten nicht gestattet würden. Daher käme es darauf an, sich auf gewerkschaftliche Arbeit zu konzentrieren.
Und so geschah es: Eine Gruppe von Sozialdemokraten und Kommunisten erfuhr am 7. Mai 1945 von einem britischen Offizier, daß die Militärregierung es ablehne, die Gründung politischer Organisationen zu erlauben. Die Delegation wurde an Major Dwyer verwiesen, der Mitglied der Labour-Party war. Er gab der Gruppe Arbeitsräume im Gewerkschaftshaus, das August Bebel 1906 eingeweiht hatte und das am 2. Mai 1933 von der SA gestürmt worden war. Am 8. Mai, als in Europa der Krieg zuende ging, beschloß die Arbeitsgruppe, die Sozialistische Freie Gewerkschaft (SFG) zu gründen. Sie veröffentlichte einen Programmentwurf, in dem es unter der Überschrift „Wirtschaft“ u.a. hieß: „Sicherung einer menschenwürdigen Existenz für alle durch Vollbeschäftigung und ausreichende Unterstützungen für alle Arbeitsbeschränkten. Verstaatlichung der wirtschaftlichen Schlüsselstellungen, insbesondere Bergbau, Hüttenbetriebe, Konzerne der Metallverarbeitung und Chemie, Transport, öffentliche Dienste, Banken und Versicherungen. Überführung des Großgrundbesitzes und Baulandes in öffentliches Eigentum. Organisierung des Wohnungsbaus, Förderung der ländlichen Siedlungen, Leitung des Arbeitsamtes durch die Gewerkschaften ...“
Folgende Sofortmaßnahmen wurden gefordert: „Die Übernahme der von den Nazis geraubten Arbeitergenossenschaften ... Preisstop ... Beschlagnahme aller Großwohnungen und Aufteilung des Wohnraums an wohnungslose ehemalige politische Gefangene, Kriegsbeschädigte und Bombengeschädigte, soweit sie Antinazis sind ...“ Unter dem Stichwort „Politik“ stand u.a. zu lesen: „Ausrottung der Nazis ... und des Militarismus ... Bestrafung aller Kriegsschuldigen und Kriegsverbrecher ... Aufbau einer volksnahen Rechtspflege. Kontrolle der Sportorganisationen durch die Gewerkschaft, um die Bildung von Keimzellen nationalsozialistischer und militaristischer Art zu verhindern ... Erziehung der Jugend zu den Idealen der Völkerverständigung, Menschenwürde und persönlichen Freiheiten“.
„Unsere Ziele im öffentlichen Leben“ nannte die SFG ihr Programm. Die Organisation sollte alle Arbeiter, Angestellten und freien Berufe umfassen, unterteilt in elf Industriegruppen.
Wahrscheinlich am 11. Mai 1945 trafen sich etwa 40 frühere Mitglieder aus Organisationen der Arbeiterbewegung im Restaurant des Gewerkschaftshauses, um die SFG zu konstituieren. Den Vorsitz übernahm Adolph Schönfelder, von 1926 bis Anfang 1933 SPD-Polizeisenator in Hamburg. Wie es in einem Bericht heißt, forderte er „unter allgemeinem Beifall die Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterklasse“. Gleichzeitig sagte der Redner, er habe „keinerlei politische Ambitionen mehr“, wolle aber die neue Hamburger Arbeiterbewegung unterstützen. Die Teilnehmer wählten einen vorläufigen Vorstand aus fünf Personen: Lorenz Borchers und Walter Schmedemann von der SPD, Friedrich Dethlefs und Hans Ek von der KPD und Hellmut Kalbitzer vom Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK). Am gleichen Tage stimmten die Teilnehmer auch über die 36 Mitglieder für den Vollzugsausschuß ab, von ihnen gehörten mindestens 20 früher der SPD an, sieben der KPD, zwei kamen vom ISK und einer aus der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP).
Am 14. Mai ernannte die britische Militärregierung Rudolf Petersen zum Ersten Bürgermeister. Er stammte aus einer Kaufmannsfamilie. Pikanterweise schlug ihn der Präses der „Gauwirtschaftskammer“, Joachim de la Camp vor – Mitglied der Hitler-Partei seit 1932 –, der mit Billigung der Militärregierung weiter amtierte.
Am 15. Mai vereinbarte die SFG mit der britischen Militärregierung, in allen Betrieben provisorische Vertrauensleute einzusetzen. Sie sollten sich später zur Wahl stellen, ausgeschlossen ehemalige aktive Nazis. Einen Tag später erschienen Walter Schmedemann und Friedrich Dethlefs im Rathaus, um der Militärregierung und dem Bürgermeister einen Katalog mit Wünschen und Forderungen der SFG zu übergeben. In diesem Schriftstück hieß es: „1. Anerkennung der SFG als rechtliche Körperschaft. 2. Sofortige Übernahme des Arbeitsamtes. 3. Ständige Vertreter im Hamburger Verwaltungsausschuß. Übernahme der Bau-verwaltung, Schulverwaltung, Sozialfürsorge ... 4. Säuberung aller Behörden von aktiven Nazis und sofortige Absetzung aller Betriebsobleute und Anerkennung der von den Belegschaften gewählten Betriebsräte. 5. Verordnung über Wiedereinstellung der 1933 aus politischen Gründen entlassenen Arbeiter, Angestellten und Beamten“.
Die Militärregierung und der Bürgermeister lehnten diese Forderungen kategorisch ab.
In jenen Tagen befanden sich die politischen Häftlinge der Nazis weiterhin im Untersuchungsgefängnis, die Naziaufseher versahen unverändert ihren Dienst. Der britische Major und Kommandant der Hamburger Haftanstalten, Le Conu, ging durch die Räume, aber es geschah nichts. Eine Frau aus der Widerstandsgruppe Bästlein-Jacob-Abshagen erinnerte sich später: „Wir beschlossen, uns zu wehren und unsere Freilassung zu erzwingen. Beim Hofrundgang bildeten wir einen Sprechchor und riefen ununterbrochen: ,Wir wollen raus, die Nazis müssen rein!'... Der alte Naziregierungsrat kam und bestellte die ,Rädelsführer' zum Major Le Conu. Wir wurden zwar nicht freigelassen, aber wir konnten einige Forderungen durchsetzen: Zellentür öffnen, in den Hof, wann man will, bei Besuch ohne Aufsicht, Besuch unserer mitinhaftierten Genossen, Schreibmaschine zur Verfügung, außerdem konnten wir die Hausakten einsehen.“
Am 26. Mai 1945 sollten die befreiten Häftlinge aus dem KZ Buchenwald in Hamburg ankommen. Die politischen Gefangenen forderten, aus diesem Anlaß beurlaubt zu werden. Nach längerer Zeit erhielten sie dazu die Erlaubnis. „Als wir uns dann aufgestellt hatten, um hinauszugehen, fuhr dann durch das geöffnete Tor eine englische Jeep-Kolonne auf uns zu, die Maschinengewehre auf uns gerichtet. Wir mußten ins Gefängnis zurück. Nachmittags um 15 Uhr – erst 23 Tage nach der Kapitulation – wurden wir entlassen“, so die Frau.
Aus der Begrüßungsveranstaltung für die Überlebenden von Buchenwald entwickelte sich die erste Demonstration im besetzten Hamburg. Die Antifaschisten zogen zum UG, um die Freilassung der politischen Gefangenen zu verlangen. Das britische Militär ging gewaltsam gegen die Protestierenden vor. Die Militärregierung nahm diese Demonstration zum Anlaß, die von ihr abgelehnte SFG zu beschuldigen, sie habe sich dadurch unerlaubt politisch betätigt. Besonders heftig wurde Hellmut Kalbitzer angegriffen. Der Vorstand der SFG wies diesen Vorwurf zurück, das Klima der Beziehungen zur Militärregierung verschlechterte sich.
Jedoch auch innerhalb der Organisation gab es Auseinandersetzungen. In einer Bahrenfelder Fabrik bildete sich der „Ketzerklub“, geleitet vom früheren ADGB-Vorstandsmitglied und SPD-Reichstagsabgeordneten Franz Spliedt. Diese Gruppe fand das Wohlwollen der Militärregierung.
Am 20. Mai 1945 hatte die SFG ihre Räume im Gewerkschaftshaus verlassen und sich um neue bemühen müssen. Dem „Ketzerklub“ gelang es, „hinter dem Rücken des nach wie vor amtierenden SFG-Vorstandes Kontakt mit der britischen Militärregierung aufzunehmen und sich mit seinen Vorstellungen zunehmend die Sympathien der Engländer zu sichern“, konstatiert Holger Christier in seinem 1975 erschienenen Buch „Sozialdemokratie und Kommunismus – Die Politik der SPD und KPD in Hamburg 1945-1949“. Über die „Ketzer“ schreibt er an anderer Stelle: „Obgleich es keine direkten Belege dafür gibt, spricht vieles für die Annahme, daß dieser Gruppe auch der starke Einfluß der Kommunisten auf die Arbeit der SFG nicht eben willkommen war.“
Am 18. Juni 1945 unterzeichneten beide Gruppen – „Ketzer“ und Befürworter der Einheitsgewerkschaft – ein Protokoll mit der Überschrift „Zur Gründung freier Gewerkschaften in Hamburg“, in dem es hieß, die SFG werde nicht fortgeführt, „sondern in eine Reihe von selbständigen Gewerkschaften umgewandelt ... Diese Gewerkschaften werden ihre Arbeit durchaus unpolitisch weiterführen.“ Das Dokument enthielt keinen direkten Beschluß über die Auflösung, diese setzte die Militärregierung mit massivem Druck – der bis zur Verhaftungsdrohung reichte – am 20. Juni 1945 durch. Auf einer Liste mit den Namen künftiger Gewerkschaftsvorsitzender standen nur die der Mitglieder des „Ketzerklubs“. Spliedt wurde Vorsitzender des Verwaltungsausschusses.
Die SFG erhielt in der kurzen Zeit ihrer Existenz ca. 55.000 Aufnahmeanträge, ohne offizielle Sammlungen kamen 100.000 Reichsmark zusammen. Der sich darin ausdrückende Wille vieler Arbeiter wurde damals rigoros mißachtet. Holger Christier bezeichnet die Auflösung der SFG als schweren Rückschlag für die antifaschistischen Kräfte Hamburgs. Und „schließlich scheiterte mit der SFG auch ein erster wichtiger Versuch, die Einheit der Arbeiterklasse zu erreichen“.
Auf dem zweiten Landesparteitag der SPD am 14. Juli 1946 erinnerte Adolph Schönfelder an die SFG: „Die Tatsache der Gründung dieser Gewerkschaft wird manchmal schamhaft verschwiegen, ich glaube aber, daß es nötig ist, doch der Tatsache zu gedenken, daß das die erste Zusammenkunft gewesen ist nach dem Zusammenbruch, die erfolgte, um sich zu beraten: Was soll nun geschehen?“ Bevor er in den ernannten Senat unter Petersen eingetreten sei, habe er im Gewerkschaftshaus vor den Gewerkschaftern gesprochen und dort mit Hinweis auf 1918 gefragt, „ob wir wieder die Verantwortung mit übernehmen“. „Es ist mir ein einmütiges ,Ja!' entgegengeschallt. Es waren auch viele Kommunisten dort, und ich sehe den alten Jan Westphal noch vor mir sitzen und mir zurufen: ,Ringohn!' (Reingehen!)“, setzte Schönfelder hinzu.
Letzter Teil Montag, 8. Mai
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