Respekt vor kleinen Persönlichkeiten

Die anderen waren auch toll, aber nicht so lange. Heidi liebte ich mit sechs, James Krüss mit acht. Karl May las ich mit zehn, Enid Blyton bis zum Beginn der Pubertät. (In der Bücherei hing ein Schild: „Es dürfen nicht mehr als acht Enid-Blyton-Bände auf einmal ausgeliehen werden.“) Aber nur Astrid Lindgren begleitete mich die ganze Kindheit hindurch, von den Kindern in Büllerbü bis zu den Ferien auf Saltkrokan und den Brüdern Löwenherz. Die Schauplätze wechselten, die Welt blieb dieselbe – konservativ. Hierarchien waren akzeptiert und akzeptabel. Die klassische Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen, zwischen Jungs und Mädchen war unumstößlich.

Klassische Rollenverteilung? Ist sie nicht das stärkste Mädchen der Welt, die Urmutter der Frauenbewegung in der Kinderliteratur? Nein. Ich wußte auch mit neun, daß ich nie ein Pferd hochheben könnte. Es war mir auch herzlich egal. Pippi eignete sich zur Identifikation etwa so gut wie die Fee bei Pinocchio – also überhaupt nicht.

Pippi war eine Märchenfigur. Ich war keine. Da konnte ich mich schon eher an die Stelle von Pippis Freundin Annika versetzen. Und was tut die? Vor allem eines: Sie zickt. „An einer Bergwand entlangzuklettern, das war nicht gerade das, was Annika unter einem Vergnügen verstand.“ Pippi macht beiden Geschenke. Thomas bekommt ein Notizbuch mit einem kleinen silbernen Bleistift, Annika eine Korallenkette. So ist das Leben – und so bleibt es auch.

In anderen Büchern haben mich solche Festschreibungen ziemlich früh geärgert, auch wenn ich die Geschichten mochte. Warum darf Li Si eigentlich nicht mit in den Kampf gegen die Wilde 13 ziehen? „Das is' eine Männersache“, erklärt Jim Knopf. Dieser Satz verdarb mir den ganzen Spaß. Ich fühlte mich mit acht Jahren deklassiert, auch wenn ich das Wort damals noch nicht kannte. Astrid Lindgren hätte zehn dieser Sätze schreiben können. Wäre mir nicht mal aufgefallen.

Denn sie beherrscht eine Kunst, die eigentlich keine ist; etwas, das nur gelingt, wenn es ganz absichtslos daherkommt: Sie nimmt ihre Charaktere als Persönlichkeiten ernst, und sie mag sie alle. Die Rollen stehen fest, die Eigenschaften nicht: Tjorven ist trotziger als Pelle, Inga ironischer als Bosse, Eva- Lotte klüger als Anders. Das spricht nicht gegen Pelle, Bosse und Anders. Menschen sind halt verschieden.

Astrid Lindgren wollte mir nichts beibringen, schon gar keine Moral. Sie wollte stets nur eines: mir Geschichten erzählen. Die waren vor allem deshalb spannend, weil ihr Ende sich nicht vorhersehen ließ. Es war keineswegs ausgemacht, daß Kindern, die sich leichtsinnig in riskante Situationen bringen, Böses bevorstand. Vielleicht hatten sie auch einfach eine gute Zeit, so wie Lillebror beim Flug mit Karlsson vom Dach. Auch Wutausbrüche und andere Ungezogenheiten führten nicht zwangsläufig zu schrecklichen Erfahrungen, aus denen die Kinder reuig hervorgingen. Lottas Auszug von zu Hause war so erfreulich, daß bei uns mein Satz „Jetzt geh' ich in die weite Welt“ zum geflügelten Wort wurde.

Dabei hat Astrid Lindgren Autoritäten nie in Frage gestellt. Erwachsene, die nicht zum Umfeld der Kinder gehören, können in ihren Büchern doof, aufdringlich, sogar verbrecherisch sein. Eltern und Lehrer sind dagegen fast immer vernünftig und liebevoll, ihre Regeln sinnvoll. Aber ihnen sind enge Grenzen gesteckt: Sie sind notwendig in ernster Gefahr und nützlich für häusliche Geborgenheit. In der Welt der Kinder haben sie ansonsten nichts zu suchen. Astrid Lindgren hat großen Respekt vor gewünschter und notwendiger Distanz.

Pippi Langstrumpf ist kein feministisches Buch. Trotzdem ist Astrid Lindgren in ihrer radikalen Toleranz revolutionär. Und doch wär's schön gewesen, wenn Annika ihrem Bruder wenigstens einmal gezeigt hätte, wo Göttin wohnt. Bettina Gaus