„Die Qualität fehlt in vielen Beziehungen“

■ Diplompsychologe Johannes Herrle (39) vom Lehrstuhl für klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden über die Ursachen von Einsamkeit in der Mediengesellschaft

taz: Wie äußert sich Einsamkeit?

Johannes Herrle: In Unbehagen, in der Empfindung, daß bestimmte soziale Bedürfnisse nicht befriedigt sind. Einsamkeit ist also ein subjektiver, unangenehm empfundener Zustand, der auf das Fehlen ganz bestimmter sozialer Beziehungen zurückgeführt wird. Dieses subjektive Leiden strahlt mitunter auch auf die eigene Person zurück, indem man sich als unliebenswert und wertlos empfindet. Es gibt Menschen, die sind wenig isoliert und fühlen sich trotzdem einsam, weil sie in ihren sozialen Beziehungen die nötige Tiefe vermissen. Andererseits kann jemand auch sehr wenige Kontaktpersonen haben und sich trotzdem nicht einsam fühlen.

Hat Einsamkeit mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun?

Sie ist mit die Folge bestimmter Entwicklungen. Es gibt darüber unterschiedliche Vorstellungen. Eine, die auch bei vielen Laien verankert ist, ist eine Art Zerfallsmodell: Familien und nachbarschaftliche Strukturen sind zerfallen und von daher sind bestimmte Bezüge nicht mehr da, vor allem in Großstädten. Ein entgegengesetztes Modell besagt, daß man in Großstädten andere Möglichkeiten hat, sich sozial zu vernetzen und Einsamkeit zu überwinden. Allerdings hat das auch eine Kehrseite: Das große Angebot suggeriert, daß viel Quantität gelebt werden muß. Zwar können die vielen Angebote soziale Kontakte stiften. Heute ist es nicht angesagt, einsam zu sein, das geben viele Leute nicht so gerne zu. So lassen sich Einsamkeitsgefühle durch Angebotsfülle prima zudecken. Aber was Einsamen eher fehlt, ist die Qualität von Beziehungen. Denn wenn man nur Angebot, nur Input hat, kann auf der Beziehungsebene nur wenig passieren. In der heutigen Gesellschaft mit den vielfältigen, unpersönlichen Vernetzungsmöglichkeiten der elektronischen Medien liegen einige Kompetenzen brach.

Was für Kompetenzen sind das?

Auf andere Menschen zuzugehen, seine Gefühle zu äußern und auszutauschen und damit letztlich Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten.

Ist Einsamkeit etwas, was sich viele Menschen schwerer eingestehen als Zustände wie Traurigkeit?

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß wenn über Gefühle geredet wird, am leichtesten Wut und Ärger angesprochen werden können. Dann kommt Angst und am schwierigsten ist das Ansprechen von Traurigkeit. Einsamkeitsgefühle sind eng mit Traurigkeit verbunden und rangieren daher eher hinten. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, daß Menschen, die sich selber als einsam beschreiben, weniger gut ankommen. Das ist insbesondere bei Männern der Fall. Für die ist Einsamkeit offenbar etwas anderes als für Frauen. Bei Männern scheint dahinter weniger ein Bedürfnis nach Qualität als nach Quantität von Beziehungen zu stehen. Frauen können soziale Bedürfnisse eher äußern. Interview: Barbara Bollwahn