: Wie lustig ist Sachsen-Anhalt?
■ Aus den Kuschelecken eines DDR-Jugendzimmers: Christoph Heins „Von allem Anfang an“
Blumenvasen an Armaturenbrettern, Holzbänke in den Eisenbahnen. Ausgrabungen im ersten Leben, kurz vor dem Mauerbau, die die Figur Daniel im Auftrag seines Federführers für das zweite, nach der Wende, hinüberrettet. Dazu ein preußisch-strenger Großvater, ein „erklärter Feind der neuen Ordnung“, der als ebensolcher seine Stellung auf einem der volkseigenen Güter verliert. Dann Daniels Vater, ein Pastor und Notlügner, und eine scheuerfest loyale Mutter, die dem Leben mit Staubtuch und aufgeräumten Schränken beikommen will.
Eine Rückschau mit autobiographischen Versatzstücken des Pastorensohns Christoph Heins, die ebensogut Daniel kommt ins Internat oder Wie lustig ist Sachsen-Anhalt heißen könnte.
Daniel ist 13 und kapiert bald, daß es leichter ist, heimlich im verminten Russen-See zu schwimmen, als überzeugend zu küssen. Er sei „politisch unreif“, sagt die Lehrerin. Doch für Daniel hat das Wort Politik seit kurzem eine neue Bedeutung. Er träumt von dem Mädchen Pille, ihren „... feuchten Schamhaaren, von denen die Wassertropfen herabrollten. Diese Bilder mischten sich in meinem Kopf mit der Partei, und ich war verwirrt.“Eine Konfusion mit Folgen. Zwar vögelt Pille mit Daniels Freund, die folgende Vaterschaft beansprucht Daniel jedoch mit abenteurlichen Fortpflanzungslehren für sich. Sein Voyeursperma ergoß sich nämlich genau auf jenen Fahrradsattel, auf den sich Pille ohne Stutzen und ohne Unterhose zum Heimweg aufschwang.
Was in solchen Passagen voller Pickel- und Pubertätsnöten noch in wunderbarer Lakonie aufgeht, gerät an anderer Stelle zu Hausbackenem. Da bekennt sich Daniels Tante Magdalena – „mit dem Klassenkampf kenne ich mich nicht aus“– zur guten Stube und unbedingter Privatheit. Und auch der Erste Weltkrieg landete in ihrem Leben mit der erträglichen Wucht einer Watsche („aber mit dem Krieg, das ist für mich wie eine Ohrfeige“). Ihr Verlobter galt als vermißt, und als Magdalena ihrer Schwiegermutter artig mit Parolen von Vaterlandliebe und stolz verreckenden Kriegern trösten will, fängt sich das dumme Ding eine. Da heult es endlich. Doch kein Verlust, keine Trauer und schon gar keine Phantomschmerzen einer abhanden gekommenen Utopie, die sich nicht mit zartbitteren Anekdoten verpflastern ließe. Und so rutscht die Geschichte vom verlorenen Geliebten rasch wieder in jene Stimmung, die mit ihrer trutschigen Freundlichkeit und versöhnlicher Kachelofenwärme die ganze Erzählung einbettet. Und postwendend zur Ohrfeigen-Anekdote „lachte Tante Magdalena einen lauten Juchzer und kicherte solange, bis auch ich lachen mußte“.
Will man bei Hein die Resignationen der DDR kurz vor dem Mauerbau vernehmen, die Ankunfts- und Aufbaumüdigkeit unter den ostdeutschen Intellektuellen zwischen dem 23. Parteitag der KPdSU und den Aufständen in Ungarn ausfindig machen, muß man sehr genau hinschauen. Und hin und wieder läßt sie sich tatsächlich zwischen den Ritzen der Kindheitspolstermöbel herauszuppeln. Wenn auch nur, um alsbald zwischen dem Ausnahme-Luxus von Schlagsahne und Eis wieder in alltägliche Sättigungsbeilagen zu rutschen. So erfährt Daniels Familie von den in Budapest einrollenden russischen Panzer bei einem sonntäglichen Ausflug nach West-Berlin durch eine Leuchttafel am Kudamm. Die Westler kümmert dieser brachiale Ausdruck parteisozialistischer Ratlosigkeit nicht weiter. Daniels Vater ist erschüttert. „Iß doch bitte den Kuchen, er ist teuer genug“, mahnt die Mutter, und Daniel träumt weiter vom Grunewalder Internat.
Heins Lust an szenischer Miniaturen und der narrativ sicherlich souveräne Schulterschluß zwischen naivem, 13jährigem Erzähler-Ich und ironischem Plotverwalter ruht satt in sich selber. Hier hat sich jemand zurückgelehnt, raucht genüßlich den Dampf alter Tage und verdaut den Glanz des eigenen Schriftstellerlebens, das einst (Drachenblut, Horns Ende) nicht eben zimperlich mit den realexistierenden Widersprüchen und Idiotien des Arbeiter- und Bauernstaates umging. Birgit Glombitza
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