: Großstadtlegenden Von Carola Rönneburg
Moderne Sagen und Großstadtlegenden, wie sie der Göttinger Volkskundeprofessor Rolf Wilhelm Brednich akribisch gesammelt hat, verbreiten sich fast ausschließlich nach dem selben Muster: Sie werden mündlich verbreitet und sind dem Erzähler zumeist von guten Freunden – also verläßlichen Quellen – zugetragen worden. Da ist zum Beispiel der Fall eines Ehepaares auf dem Lande, das Besuch von Freunden erhält. Die haben ihren recht großen Hund mitgebracht; das Tier wird in den Garten entlassen und taucht nach einer angemessenen Weile verdreckt und mit einem toten Kaninchen in den Fängen wieder auf. Die Gastgeber entdecken voller Ensetzen, daß es sich um ein Kaninchen ihres Nachbarn handelt; gemeinsam wäscht und föhnt die Runde das Beutetier und legt es in seinen Stall zurück. Am nächsten Tag berichtet der Nachbar irritiert, er habe vor drei Tagen ein eingegangenes Kaninchen auf seinem Grundstück vergraben. Heute morgen habe es jedoch sauber, wenngleich immer noch tot, im Stall gelegen.
Das ist eine Geschichte, die wenig Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt aufkommen läßt. Andererseits: Müßte ein Nager, von einem Hund zu Tode gebracht, nicht auch blutig sein? Bluten Kaninchen post mortem länger als andere Spezies? Bleiben sie deshalb weich, biegsam und waschbar, selbst nach drei Tagen unter der Erde? Wie kommt es, daß das Kaninchen sofort als Nachbarsbesitz identifiziert wurde? Wie hat der Hund die Stalltür geöffnet?
Eine recht neue Legende dreht sich abermals um einen Hund. Hier ist er allerdings etwas kleiner, denn der Vorfall spielt in der Stadt: Ein Gruppe junger Menschen will eine Überraschungsparty für eine Frau ausrichten. Alle Beteiligten haben sich im Wohnzimmer verborgen, als sie nach Hause kommt. Die Frau wandert nichtsahnend durch die Räume und lockt dabei beständig ihren Hund. Als sie das Zimmer mit den Partygästen betritt, ist die Überraschung wirklich groß: Madame ist nackt und hat sich etwa ein halbes Pfund Nutella in die Schamhaare geschmiert.
Auch hier finden sich reichlich Ungereimtheiten. Sind Frauen so? Ziehen sie gleich, nachdem sie zu Hause eingetroffen sind, die Kleider aus und greifen ins Nutella- Glas? Warum nicht in die Pal- Dose? Warum blieb die Partybande solange ruhig, bis die peinliche Situation perfekt war? Und wo steckte eigentlich der blöde Hund? Noch schöner aber ist die Variante, die mir vor kurzem bei einem Treffen mit drei Kollegen aus der Zeitungsbranche zu Ohren kam. „Eine irre Geschichte“ fiel einem da ein, sie war einer Freundin von Freunden passiert. Diese Freunde wollten eine Überraschungsparty... Aufgeräumt kolportierte er den gesamten Nutella-Vorfall, allerdings war bei ihm kein Hund, sondern eine Katze im Spiel. Nachdem der Märchenonkel die Pointe losgeworden war, herrschte Schweigen. Verlegen starrten die anwesenden Männer in ihre Biergläser. Ich schlug die Beine übereinander und überbrückte die Stille mit Fragen: Wieso eine Katze? Wieso ein Tier, das selbst in Journalistenkreisen bekannt ist für seine überaus rauhe, ja geradezu sandpapierähnliche Zunge? Warum wissen Männer sowenig über weibliche Anatomie?
Dann trat noch eine Pause ein. Was soll ich sagen? Der Abend war gelaufen.
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