Die SPD sucht immer noch den Nachfolger Willy Brandts

Kommende Woche trifft sich die SPD zum Bundesparteitag. Selten war die Sozialdemokratie zu Beginn eines Bundestagswahlkampfes vor so grundsätzliche Alternativen gestellt, wie Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine sie repräsentieren. Mit der Entscheidung bestimmt die Sozialdemokratie ihre Zukunft weit über die Wahl hinaus. Im Kampf um die Macht in Bonn wäre Lafontaine im Vorteil: Jüngste Ergebnisse der Wahlforschung zeigen, daß nur ein Kandidat, der glaubwürdig seine Partei vertritt, das eigene Wählerotential optimal ausschöpfen kann  ■ Von Jürgen Gottschlich

Parteien, sagt das Grundgesetz der Bundesrepublik, sind Orte der politischen Willensbildung. In ihnen organisiert sich die Debatte über die Zukunft des Gemeinwesens, werden Ideen und Initiativen in Politik umgesetzt – so weit die Theorie. Parteien sind Machtmaschinen, die der Durchsetzung der Interessen einzelner und/oder kleinerer Gruppen gegenüber dem großen Ganzen dienen – sagt die Erfahrung im politischen Alltag.

Grundsätzlich bewegen sich alle Parteien in Deutschland zwischen diesen beiden Polen, bekanntermaßen ist nur die Abweichung von der Theorie unterschiedlich groß. Was die Parteien unterscheidet, ist der Grad der Intensität, mit dem dieser Konflikt innerhalb der Organisation ausgetragen wird. Die unangefochtene Spitzenposition auf dieser Richter-Skala hat seit längerem die SPD inne. Der SPD geht es gut, wenn Programm und Personal übereinstimmen. Dieser Zustand liegt jedoch schon eine ganze Zeit zurück. Der letzte Spitzenpolitiker der deutschen Sozialdemokratie, der Programm und Machtperspektive glaubhaft miteinander verbinden konnte, dem die Partei ebenso begeistert folgte, wie der Wähler ihm seine politische Vision abnahm, war Willy Brandt. Schon Helmut Schmidt hatte, selbst auf dem Höhepunkt seiner Popularität, große Mühe, den Willensbildungsprozeß innerhalb seiner Partei zu repräsentieren. Schmidt scheiterte nicht zuletzt daran, daß er glaubte, die Deutschen wählten Personen und keine Parteien.

Seit diesem Irrtum befindet sich die SPD in der Opposition. Nach 16 Jahren schwarz-gelber Regierung ist der Wunsch, die Macht zurückzuerobern, jetzt übermächtig. „Das“, sagt ein Mitglied des Parteivorstandes, „bindet ganz schön und läßt einen manche Kröte schlucken.“ Die Gefahr ist, daß die SPD mal wieder die falsche schluckt.

In einer jüngst erschienenen Studie über die Stabilität des deutschen Wahlverhaltens am Beispiel des sogenannten Superwahljahres 1994 kommen die Wahlforscher zu erstaunlichen Ergebnissen. Allen Debatten über Mobilität, die Auflösung gesellschaftlicher Milieus und das Primat individualisierten Handelns in der postindustriellen Gesellschaft zum Trotz: Das Wahlverhalten war überwiegend durch eine große Parteientreue gekennzeichnet. Eine Langzeitstudie von 1964 bis 1994 zeigt: Der Anteil der Wechselwähler hat in diesen 30 Jahren lediglich von 17 auf 22 Prozent zugenommen. Bei allen Parteien war der Anteil der Stammwähler doppelt so groß wie der der Wechselwähler.

Wahlentscheidend für die drei großen Parteien, Union, SPD und Bündnisgrüne, ist deshalb die Mobilisierung ihrer Stammwählerschaft. Die Analyse der Berliner Politologengruppe um Richard Stöss zeigt, daß die Union die letzten Bundestagswahlen genau aus diesem Grund noch einmal knapp gewonnen hat. Je näher der Wahltermin rückte, um so mehr ehemalige Wähler der Union bekannten sich wieder zu ihrer Partei. Dieses Kohlsche Wunder, das mit der Wahl des Bundespräsidenten im Frühjahr 94 begann, hatte einen Namen: Wirtschaftsaufschwung. Weil es der Mannschaft um Kohl im Verein mit befreundeten Medien gelang, ihren potentiellen Anhängern ein nicht vorhandenes Phänomen einzureden, gewann Kohl die Wahl. Ein Wirtschaftsaufschwung hatte nicht stattgefunden. Gegen alle ökonomische Vernunft war es Kohl jedoch gelungen, eine positive Identifikationsmöglichkeit mit der Union zu bieten und so die Leute an die Urne zu bringen. Die Union konnte ihr Potential optimal ausschöpfen, weil Wirtschaftskompetenz eines ihrer entscheidenden Merkmale ist.

Die hohe Stabilität des Wahlverhaltens hat einen Grund: WählerInnen entscheiden sich auf der Basis einer klaren Wertorientierung. Public Relations sind, entgegen landläufiger Meinung, dagegen jedoch relativ unwirksam.

Welcher Wertorientierung entspricht nun die SPD? Die Sozialdemokraten sind von drei Parteien umstellt, die mit einer Antwort auf diese Frage weniger Probleme haben. Die Union steht in den Augen ihrer Wähler für autoritativ hergestellte Stabilität in Verbindung mit hoher Wirtschaftskompetenz, die Grünen sind antiautoritär, radikaldemokratisch und ökologisch, die PDS hat im Osten das Etikett für soziale Gerechtigkeit gepachtet. – Die SPD hat von allem etwas.

Die Antwort der Partei auf dieses Dilemma heißt „Innovation“. Innovation ist der Kampfbegriff der SPD für den bevorstehenden Wahlkampf. Das ist erst einmal nicht schlecht. Auch Brandt hat einen Wahlkampf mit der Parole bestritten, die SPD werde dafür sorgen, daß der Himmel über der Ruhr wieder blau werde – ein Slogan, der bis heute hängengeblieben ist und in den Annalen der Partei als Beleg für die frühe Entdeckung der Ökologie gilt. Im Vergleich zu uns, so die neue Botschaft, sind alle anderen alt.

Im gerade stattfindenden innerparteilichen Testlauf der Botschaft ist bereits deutlich geworden, daß der Inhalt, den der zentrale Begriff der SPD-Kampagne transportiert, stark davon abhängt, welche Person ihn definiert. Innovation, das ist Vor- und Nachteil zugleich, kann vieles sein, und deshalb rückt die Personalfrage so in den Vordergrund. Mit Lafontaine verbindet sich eine andere Botschaft als mit Schröder. Dabei hat vor allem der niedersächsische Ministerpräsident ein großes Problem. Seine Populärität beruht auf der Abgrenzung gegenüber seiner Partei, die Innovation, die er verspricht, widerspricht der programmatischen Mehrheit der SPD, und seine Person entspricht nicht der mehrheitlichen Wertorientierung seiner Partei. Es ist schon erstaunlich, was selbst hohe SPD-Funktionäre, bei Zusicherung von Anonymität, über ihren potentiellen Kanzlerkandidaten zum besten geben. Schröder „ist völlig unberechenbar“, „hat keinen politischen Charakter“, „Schröders einziges politisches Programm ist sein Einzug ins Kanzleramt“, „ein Mann, der nur nach Instinkt handelt und darum nur falsch handeln kann“, „der Kandidat der Altindustrie“.

Auch Leute, die nicht zu unbedingten Parteigängern Oskar Lafontaines zählen, reden von Schröders Kanzlerkandidatur wie von einer Naturkatastrophe. „Nach einem überzeugenden Wahlsieg in Niedersachsen wird er wohl nicht mehr zu verhindern sein.“ Für diesen Fall, in dem die Partei sich der scheinbaren Zwangsläufigkeit fügt, prophezeit ein unermüdlicher Aktivist der Sozialdemokratie ein in der SPD bislang beispielloses Verhalten. Ein großer Teil der Partei wird sich im Wahlkampf verweigern. „So etwas hat es in der SPD gegenüber einem eigenen Kandidaten noch nie gegeben. Selbst zu Zeiten der heftigsten Auseinandersetzungen mit Helmut Schmidt war die Loyalität größer.“

Dabei geht es nicht nur um inhaltliche Auseinandersetzungen. Einem großen Teil der Partei ist das Verhalten ihres Umfragenkönigs einfach zuwider. Der Aufstieg Gerhard Schröders widerspricht dem Wertekanon vieler Mitglieder und Funktionäre. Angefangen vom Mobbing gegen den angeschlagenen Parteichef Engholm über die Antipolitik gegen den Nachfolger Scharping bis hin zu flotten „Ausländer raus!“-Sprüchen zur eigenen Profilierung – so verhält ein Sozialdemokrat sich nicht. So umstritten die Kandidaten der letzten 15 Jahre innerhalb der Partei auch waren – an der persönlichen Integrität von Hans- Jochen Vogel, Johannes Rau, Oskar Lafontaine oder Rudolf Scharping haben selbst ihre Gegner nie gezweifelt. An die Integrität Schröders glauben aber nicht einmal seine Anhänger. Wertorientierte Wähler dürften da ihre Schwierigkeiten haben.

Nach Aussagen der Wahlforschung werden die kühl kalkulierenden Schröder- Strategen um den Wahlkampfmanager Bodo Hombach und den gewendeten Ex- Gewerkschafter Alfred Tacke im Verlauf des Wahlkampfs ein weiteres, immer deutlicheres Problem bekommen. Ein Kanzlerkandidat, der sein Potential ausschöpfen will, muß eine glaubwürdige Machtperspektive bieten. Für eine große Koalition braucht man keinen Wahlkampf, deshalb wird auch Schröder sich gegen diese Variante verwahren. Mit dem Kampf um die eigene Mehrheit ist Rau bereits einmal grandios gescheitert, dieser Traum ist längst ausgeträumt. Mit wem aber will der Hannoveraner koalieren? Auch wenn man einzelne Positionen schon mal nach aktuellen Stimmungen fluktuieren lassen kann, das eigentliche Image muß glaubwürdig bleiben.

Schröder hat sein positives Image als der Mann, der sich traut, auch seiner Partei zu widersprechen. Dieses Image hat er sich mit Positionen erstritten, die man zwar auch als Innovation verstehen kann, die ihm aber vor allem Zustimmung aus dem Unionslager gebracht haben. Deregulierung, Wachstum um jeden Preis, Zurückdrängen ökologischer Einwände als unzeitgemäß, materieller Verzicht auf Arbeitnehmerseite und eine unbedingte Angebotsökonomie, die jedes öffentlich finanzierte Arbeitsprogramm für den Sündenfall an sich hält. Kein Wähler wird glauben, daß daraus ein tragfähiges Koalitionsprogramm mit den Grünen wird, schon gar kein potentieller CDU- Wähler, den Schröder erklärtermaßen abholen will.

Strukturell hat die SPD schon genug Probleme mit den Grünen. Wenn auch die Mehrheit aller sozialdemokratischen Funktionsträger, wie eine umfassende Erhebung unter den Kommunalpolitikern der SPD ergab, mittlerweile eine klare Präferenz für Grün haben, bleiben doch Vorbehalte, die aus tiefen Verletzungen herrühren. Ein so einflußreicher Sozialdemokrat wie der Fraktionsvorsitzende der SPD in Düsseldorf, Klaus Matthiesen, ist den Grünen bis heute gram, weil sie ihm angeblich einen strahlenden Wahlsieg in Schleswig-Holstein vermasselten. Bis heute ist die SPD bundesweit davon überzeugt, bei der Wahl des Oberbürgermeisters in Stuttgart keine andere Möglichkeit gehabt zu haben, als den Grünen-Kandidaten Rezzo Schlauch zu verhindern. Selbst ein so auf Dialog eingestellter Mensch wie der stellvertretende Bundesvorsitzende Wolfgang Thierse wird unversehens laut, wenn er sich über die vermeintlichen Modernisierer bei den Grünen ereifert, die doch hinterrücks nur mit den Uraltkamellen der Konservativen daherkämen. Trotzdem ist Thierse überzeugt, daß diese Konflikte beherrschbar sind. „In einer Regierungssituation ist Handeln gefragt. Das ist in solchen Situationen ganz heilsam. Animositäten kann sich da niemand mehr leisten.“

Die SPD kann sich das schon jetzt nicht mehr leisten. Deshalb demonstrieren die beiden Kontrahenten an der Spitze öffentlich ihre Eintracht. Doch der bevorstehende Parteitag wird noch einmal zeigen, daß es tatsächlich um zwei unterschiedliche Programme geht, die mit den beiden Personen verknüpft sind. Bis März hat die Partei Zeit, die Positionen kenntlich zu machen. Am Tag nach der Niedersachsenwahl fällt die Entscheidung, welche SPD sich für den Bundestag zur Wahl stellt.

Literatur: Richard Stöss: „Stabilität im Umbruch“. Westdeutscher Verlag; Rainer Berger: „SPD und Grüne. Eine vergleichende Studie ihrer kommunalen Politik“. Westdeutscher Verlag; Franz Walter: „Die Zügel in der Hand“, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jahrgang 7, Heft 4