: Wenn der Patient zum Störfaktor wird...
Krankenhäuser sind verkrustete bürokratische Organisationen. Das Ziel zaghafter Reformversuche ist es, den Kranken in den Mittelpunkt zu stellen und die Hospitäler freundlicher zu machen. Doch noch sieht die Realität anders aus. Ein Erfahrungsbericht ■ von Christian Füller
Nein, jetzt hat Schwester Andrea kein Ohr. Auch nicht für den Oberarzt. Doktor Peter untersucht gerade die Hand von Rentner Horst, dem er wenige Tage zuvor den abgestorbenen Mittelfinger amputiert hatte. Der Arzt will Schwester Andrea die Wunde zeigen. Aber die sortiert lieber Tupfer und legt das Untersuchungsbesteck zurecht. Sie ist vertieft in ihre Routine. „Und die Schwester guckt nicht“, seufzt Doktor Peter nur.
Daß die Aufmerksamkeit der Schwestern und Pfleger gebunden ist, kann jedem Patienten passieren. Manchmal ist es der Kranke, der mit seinen subjektiven oder objektiven Wehwehchen festgelegte Prozeduren wie Fiebermessen oder Tablettenverteilen stört. Der Patient – ein Störfaktor für die bürokratische Routine des Pflegepersonals. Und das hat nichts damit zu tun, daß die Schwester etwa unfreundlich oder der Pfleger mit den Gedanken gerade woanders wäre. Krankenhäuser sind so organisiert, wie die Preußen ihre Verwaltung berühmt machten: nach Vorschrift, Hierarchie und Aktenmäßigkeit. Der berühmte Soziologe Max Weber hat das als die hervorstechenden Eigenschaften der „bürokratischen Organisation“ bezeichnet. Der Vorteil dieser Arbeitsorganisation ist Zuverlässigkeit; ihr Nachteil: Sie ist unflexibel, wenn Unvorhergesehenes Schema F zu unterbrechen droht.
In der Unfallchirurgischen Klinik kann schon die Ankunft des Patienten, der kein Notfall ist, eine unvorhergesehene Unterbrechung darstellen. Vielleicht ist gerade kein Bett frei. „Setzen Sie sich doch mal in den Aufenthaltsraum“, wird der Ankömmling erst mal zwischengelagert. Und die fehlende Auskunft darüber, wie lange er dort zu warten habe oder was denn weiter geschehen werde, läßt bei dem Nichtabgeholten eine Ahnung aufkeimen: Er ist Zeuge seiner eigenen Verwandlung vom mehr oder weniger selbstbestimmten Zeitgenossen in einen Patienten. Einen Hilfsbedürftigen, einen Uninformierten, einen Abhängigen, kurz: den K. aus Kafkas Schloß, den wir alle so sehr bedauern.
„Der Patient wird von den Aktivitäten des Krankenhauspflegepersonals, durch die Unwissenheit über sein Leiden und das, was mit ihm geschieht, förmlich überrollt.“ So notiert Stationsschwester Patricia die Widrigkeiten, die sich in einem Krankenhaus abspielen können. Man hat Patricia in einen Managementlehrgang geschickt. Denn auch den Verantwortlichen dräut, daß die Nachteile einer bürokratischen Organisation für den Eingewiesenen allzu deutlich hervortreten, wenn die Heilapparatur erst einmal über ein gewisses Maß hinausgewachsen ist: Der Patient steht, obwohl der „eigentliche Zweck“ eines Hospitals, an unterster Stelle der Hierarchie. Und er merkt es.
Da helfen auch die zaghaften Reformschritte wenig, die man allenthalben im Gesundheitswesen einschlägt. Zum Beispiel die Pflegevisite. „Das ist Herr Füller“ – die Schwester deutet in ihre Patientenakte. Ohne aufzusehen. Auch die Kollegin blickt in die aufgeschlagene Kladde. Obwohl er, der schon wieder mit Fröhlichkeit auf seinen Eingriff zurückblicken kann, direkt vor ihnen im Bett sitzt. „Die Arthroskopie ist gut verlaufen. Teil des Innenmeniskus und vorderes Kreuzband wurden entfernt. Keine Schmerzmittel mehr.“ Punkt. Der Troß von vier Schwestern zieht weiter zum nächsten Bett. Niemand sieht auf. Dabei sollte doch gerade die Pflegevisite – in diesem Fall die vor dem Patienten vorgenommene Übergabe an den Spätdienst – das Gespräch zwischen Schwester und Patient verbessern.
Horst versucht, das Schema zu durchbrechen. „Was geschieht denn mit meinem Verband?“ fragt er unsicher in den Schwesterntroß hinein, die mulldicke Hand emporhebend. Vergeblich. Die Routine siegt. Die Schwester hat sich schon nach dem nächsten Patienten umgewendet und verweist auf den Arzt. Horsts Hand mit dem in die Luft gestreckten, vertrockneten Mittelfinger wird mit keinem Blick gewürdigt.
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16 Schwestern hat Patricia als Stationschefin einzuteilen. Keine Schwester zuviel für den nervenaufreibenden Alltag einer Unfall- und Gefäßchirurgie mit 34 Betten. „Wir wollten eigentlich intensiver kommunizieren“, erinnert sich Patricia der Idee der Pflegevisite, „indem wir die Übergabe bewußt im Zimmer mit Ansprache des Patienten einführten.“ Gefruchtet hat es – noch – nichts. Genauso mit der Zimmerpflege. Statt jeweils spezialisierten Schwestern das Spritzengeben, das Blutdruckmessen oder andere Einzelfunktionen anzuvertrauen, sollte nun eine Schwester für alles zuständig sein, was in einem Zimmer vor sich geht.
Aber Pflegevisite und Zimmerpflege machen aus einem Patienten noch keinen Kunden, keinen König. Weil es – Schwester Patricia zeigt auf ihren Kopf – „von hier bis zur Umsetzung ein weiter Weg ist“. Weil die Hierarchie allgegenwärtig ist. Sie stoße „überall an die Grenzen der Verwaltung“, berichtet Particia. Nicht einmal über die Zahl der Betten herrscht zwischen ihr und der Pflegedirektion Einigkeit. Und die dringend notwendige Renovierung der Bäder in ihrer Klinik kann die Stationsschwester auch nicht vorantreiben. Obwohl sie, die Chefin und Moderatorin eines professionellen Pflegeteams, doch mehr finanzielle und personelle Autonomie haben soll. „Das ist unser Manko. Alles, was aus dem Rahmen fällt, schafft Probleme“, sagt sie.
Im neuen Edelkrankenhaus ist man nicht viel weiter. Das Unfallkrankenhaus Berlin in Marzahn wurde gewissermaßen um den Patienten, den Mittelpunkt einer Klinik, herum aufgebaut: optimale Räume. Apparativ das modernste am Markt. Mit dem besten Personal aus der Berliner und deutschen Krankenhausszene ausstaffiert. Eine patientenorientierte Arbeitsorganisation im Blick. Und trotzdem hat ihr Ärztlicher Direktor, Axel Ekkernkamp, Furcht, „daß ganz bestimmte Rituale wieder in den alten Trott verfallen“.
Das Superhospital in Marzahn schmückt sich mit einer schlanken Verwaltung. Das bedeutet für den Pflegedienst, daß eine Hierarchieebene komplett wegfällt: die Oberschwestern. In Marzahn steht kein Wahlpatient – sprich: der normale, der nichtakute Fall – mehr herum wie bestellt und nicht abgeholt. Dafür gibt es ein eigens eingerichtetes Schwesternzimmer. Und jene helle Freundlichkeit, mit der uns die Telefonauskunft neuerdings beinahe erschreckt. „Guten Tag, ich bin Schwester Petra. Was kann ich für Sie tun?“ Auch die Zimmerpflege und die Pflegevisite werden praktiziert. Aber von einem zusammenhängenden Reformkonzept, das die Alltagspraxis bereits bestimmen würde, kann auch in Marzahn keine Rede sein. Denn auch ein nagelneues Krankenhaus entsteht nicht im luftleeren Raum. „Ich habe Mitarbeiter hier, die kommen aus streng hierarchischen Systemen“, beschreibt Axel Ekkernkamp die Lage. Das „neue Prinzip muß erst erarbeitet und gelebt werden“: das Leitbild nämlich, daß der Patient im Mittelpunkt stehe.
Zurück in der Unfallchirurgie. Der bereits in die Rehabilitation Humpelnde muß für ein Rezept mehr zuzahlen als gedacht. Ein simpler Fehler, der Behandlungspreis war falsch eingetragen. Die Kassenwärterin des Krankenhauses nimmt das Rezept samt dargebotener Erläuterungen skeptisch entgegen. Und das nachzuzahlende Geld mag sie nicht nehmen. Den Kopf tief in ihr Bezahlregularium gebeugt, murmelt sie: „Sie bekommen nun also eine zweite Quittung für eine Rezeptzuzahlung. Was machen wir denn da? Das ist ja in meinen Vorschriften gar nicht vorgesehen.“
Der Autor, Stammspieler des taz-Fußballkollektivs, zog sich als Gastkicker bei Torpedo Tucholsky einen Kreuzbandriß und Meniskusschaden zu. So geriet der Verwaltungsexperte in die Fänge des Krankenhausapparats.
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