„Künstler mit exzessivem Leben“

Die einen trinken aus Lust, die anderen aus Frust. Der Tod von Saufkumpanen an Leberzhirrose schreckt sie nicht ab. Ein „Boheme-“ und ein „Kampftrinker“ erzählen  ■ Von Barbara Bollwahn

Der Mann, der auf einer Bank in der U-Bahnstation Kochstraße sitzt und den Zügen beim Ein- und Ausfahren zuschaut, spricht von einer „Lust“. Von einer „Kulturerscheinung“, einem „Gesellschaftsspiel“. Alle seine Freunde, bis auf einen, spielen es. Die es nicht tun, sind „Moralisten“. Von solchen Leuten hält sich der Mann mit den zerzausten weißen Locken, der zerschlissenen Jeansjacke und den kaputten Schuhen fern. Gemeint sind die Spielverderber. Die, die keinen Alkohol trinken.

Der Mann mit dem österreichischen Akzent, der seinen Namen nicht verrät, greift zur Rotweinflasche. „Dumakrone“ für 1,99 Mark. Es ist 13 Uhr, und er genehmigt sich die zweite Flasche an diesem Tag. „Um die Nerven zu beruhigen.“ Der 49jährige hat Streß, weil ihm Klamotten und Papiere geklaut wurden. Weil „ohne Papiere keine Lire“, muß er sich nun „mit österreichischen Konsulen herumschlagen“ und zum Sozialamt gehen, das die Miete für die Wohnung in Prenzlauer Berg zahlt.

An diesem Nachmittag ist er auf dem Weg zum Fundbüro. Doch das muß warten. „Erst muß ich möglichst schnell die Flasche austrinken“, sagt er, „deshalb sitze ich hier.“ Seine normale Ration sind zwei Flaschen Wein am Tag und abends Hefeweizen. Mit 22 Jahren war er zum ersten Mal betrunken. Das war beim Heurigen in Wien. Seit 1979 lebt er „mit Unterbrechungen“ in Berlin. Sein Revier ist Prenzlauer Berg. Dort bewegt er sich „in der Boheme“, erzählt er und schaut charmant über den Rand seiner Sonnenbrille. Nein, ein Säufer sei er nicht. Er nennt das „Künstlermilieu mit exzessiver Lebensweise“. Nicht ohne Stolz erzählt er, daß er jederzeit Kredit kriegt, weil er als „kontrollierter Trinker“ gelte.

Der Mann, der Ende der 60er Jahre „aus Spaß am politischen Treiben“ einige Semester Politikwissenschaft, Mathematik und Psychologie studiert hat, ließ sich „in Folge der 68er-Bewegung gleiten“. Von Sucht will er nichts wissen. Nach einem Schluck aus der Flasche hat er einen Satz gefunden, der ihm besser gefällt. „Ich bin vielleicht abhängig“, sagt er. „Goethe war auch abhängig“, fügt er schnell hinzu, „der brauchte jeden Tag seinen Wein.“ Alkohol heißt für ihn „lustvoll leben“. Daß zwei seiner Freunde an Leberzirrhose gestorben sind, schreckt ihn nicht ab. „Das kann jedem passieren.“

Hotte vom Oranienplatz ist ein anderes Kaliber. Der 35jährige bezeichnet sich als „Kampfsäufer“. Doch obwohl auch sein Bekanntenkreis immer kleiner wird – „die trinken sich zu Tode“ – denkt er nicht ans Aufhören. „Die kannste doch alle im Himmel wiedertreffen“, sagt er. Sicher sei Alkohol ein Problem. „Aber die reichen Säcke saufen doch auch Schampus in der Philharmonie“, wehrt er sich dagegen, abgestempelt zu werden. „Man kriegt das Zeug doch überall“, sagt er, „wir Trinker sind legal.“ Außerdem trinke er nicht ständig. „Mal einen Monat lang nix, dann lange ich ein halbes Jahr lang zu“, sagt er. Er verweist auf den Pappkarton auf der Bank, in dem er Tee, Milch und Zucker gekauft hat. Und bei zwei Gelegenheiten sei er prinzipiell (fast) nüchtern: bei Ämtergängen und Puffbesuchen.

Gründe zum Saufen hat Hotte genug: „Um mich an der Büchse festzuhalten“, sagt er, lacht und schickt einen Rülpser hinterher. Dann wird er ernst: „Es sind die sozialen Probleme in SO 36“, ergänzt er. Deshalb sei er auch ein „Protesttrinker“. Hotte ist enttäuscht von der Politik. „Ich hatte nix vom Mauerfall“, sagt er. Vorher hat er in einer 500 Quadratmeter großen Fabriketage in einer Wohngemeinschaft gelebt und irgendwie so Musik gemacht. „Da haben alle getrunken“, erzählt er, „von Sozialkohle finanziert.“ Jetzt lebt er auf 38 Quadratmeter und ist Frührentner. Hotte war sechs Jahre in der Psychiatrie. Mit 17 hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen. Dann schimpft er darüber, daß man vier Uhr morgens in Kreuzberg nichts mehr zu trinken kriegt. „Nur an der Tanke.“

Richtig problematisch findet Hotte, daß selbst 12jährige Schnaps bekommen. „Das Jugendgesetz gegen Alkohol ist ein Witz“, sagt er. Hohe Alkoholsteuern wie in Schweden wären vielleicht nicht schlecht, fällt ihm plötzlich ein. Doch dann besinnt er sich eines Besseren: „Ich hab' aber was dagegen, daß so Wichser wie Waigel die dicke Kohle einsacken.“