: Heilige Schwester Roswitha
Das Heilbad Heiligenstadt in Thüringen wurde nach der Wende frisch renoviert. Doch auch hier bleiben die massenhaft erwarteten Kurgäste aus. In der durchgestylten Klinik verwirren immer gleiche Wandbilder ■ Von Christine Berger
Der Unterschied zwischen einer Kurklinik und einem Hotel liegt im Detail. Zum Beispiel gibt es im Badezimmer der Genesungswerkstatt in Heiligenstadt eine schmale, unscheinbare Schnur. Nichtsahnend ziehe ich daran, es wird wohl der Ventilator sein, der damit in Gang gebracht werden soll. Nichts passiert, und so ziehe ich noch ein paarmal immer heftiger, bis schließlich die Schnur ein wenig kläglich und ausgeleiert von der Decke hängt. Kurz darauf klingelt das Telefon. Während ich unter der Dusche stehe und über die Rätsel eines behindertengerechten Badezimmers grübele, höre ich meine Zimmernachbarin ins Telefon plaudern: „Nein, hier ist nichts, wirklich nicht, vielen Dank, tschüß.“ Aha. Falscher Alarm, ausgelöst durch übermäßiges Benutzen einer einfachen Schnur. Statt den Zimmerservice ruft man auf diese Art die Notschwester, die einem gebrechlichen, ausgerutschten Kurgast wieder auf die Beine hilft. Doch warum hängt die Schnur so hoch? Wer hilflos am Boden liegt hat keine Chance, je daran zu ziehen.
Uns, die nur auf Stippvisite und dazu auch noch völlig gesund in der Klinik logieren, reizt der Service zu wilden Phantastereien. Schwester Roswitha, so nennen wir unsere ganz persönliche Betreuerin, könnte Erste Hilfe leisten, wenn wir uns morgens um drei an der Aluverkleidung der Schampusflasche schneiden. Leider untersagt das sie Hausordnung, in der wildes „Herumkommandieren des Personals“ streng untersagt ist. So lagern wir ein wenig gelangweilt auf erstklassigen Matratzen in behindertengerecht erhöhten Betten, lassen unsere Zigarettenschwaden zum Fenster hinaus Richtung Kurpark entschweben und warten bis zum Morgendämmern darauf, daß das Solebad endlich aufmacht.
Außer dem ganz speziellen Room-service hat die Kurklinik zu Heiligenstadt noch mehr zu bieten. Aufgebaut auf dem Rudiment der alten Kneipheilanstalt, bietet der Block sachliche Architektur, wie man sie sonst nur von aufgemotzten Plattenbauten kennt. Außen frisch getüncht und liebevoll mit Blumenbalkonen dekoriert, innen nüchtern, daß einem schwindelig wird.
So ermuntern die Bilder an den Wänden der Endlosflure zu wilden Memory-Spielen. In jeder Etage hängen ungefähr fünfzig van Goghs, dreißig Miros, dazwischen ein paar Monets. Da die Motive immer die gleichen sind, braucht man nicht viel mehr zu tun, als eines zum anderen zu fügen. Doch leider hat die Leitung der Klinik dem Spieltrieb einen Riegel vorgeschoben. Die Bilderrahmen sind so fest an die Wand geklebt, daß man sie ohne Brech- und Hebelwerkzeug nicht mehr abbekommt. „Die Gäste haben die Bilder dauernd umgehängt, weil keiner die Miros wollte“, begründet Gästebetreuer Michael Martin die Festinstallation. Verstanden. Aus Höflichkeit lassen wir die Wände ganz und verzichten auf randalöses Verändern der Flurbebilderung. Mit geschlossenen Augen wandern wir statt dessen durch die langen Gänge, bleiben auf Kommando stehen und raten, welches Bild wir vor uns haben. Wer gewinnt, bekommt eine extra Kneipppackung.
Auf jeden Fall trainiert das gleichmütige Interieur die Gedächnisleistung. Auch nach drei Tagen schaffen wir es noch immer nicht, auf Anhieb unser Zimmer zu finden. Wenigstens ist der Speisesaal leicht zu finden. Immer der Nase nach und dann die Augen aufgesperrt. So viele Meter lachsfarbene Wand prägen sich ein.
Auf die Umgebung hat die akzentfreie Einrichtung der 1992 wiedereröffneten Klinik für Orthopädie und Innere Medizin noch nicht abgefärbt. Zumindest sieht der Kurpark mit seinen Bänkchen und dem sich in die Tiefe stürzenden Fluß Leine nicht genauso aus, wie der Kurpark in Bad Zwischenahn oder Bad Soden. Gepflegte Beete ranken sich um gepflegte Bänkchen, die wiederum an eine gepflegte Stadtmauer angrenzen. Die hat der Bürgermeister des Städtchens mit Hilfe von ABM-Kräften wiederaufbauen lassen. Wer dabei mitgeholfen hat, steht auf einer goldenen Tafel. „Die Leute sollen sich nicht schämen, sondern stolz auf ihre Arbeit sein“, so der CDU- Mann Bernd Beck.
Beim ersten Bummel durch das Heilbad wird die Religiosität der Bewohner deutlich. Kirchen und Klöster allüberall. Einmal im Jahr findet eine große Leidensprozession am Sonntag vor Ostern statt, dann ist das ganze Städtchen auf den Beinen, schwingt Weihrauch und huldigt Mater dolorosa, der schmerzhaften Mutter. Kinder gehen auf kirchliche Schulen, Mütter und Väter arbeiten in katholischen Krankenhäusern oder Behinderteneinrichtungen. Wäre Heiligenstadt nicht erwiesenermaßen in Thüringen ansässig, könnte man es durchaus auch im südlichen Bayern vermuten. Allein der Dialekt verrät die preußische Ausrichtung. Katholische Gottesdienste werden regelmäßig auf plattdeutsch abgehalten.
Daß die Kirche schon immer ein wichtiger Arbeitgeber war, erklärt den relativen Wohlstand des Ortes, der nicht erst seit der Wende wie aus dem Ei gepellt erscheint. Viel Privatbesitz habe es hier schon immer gegeben und vor allem Touristen und natürlich Kurgäste, erklärt unser Ortsführer Herr Schüttel. Der teilzeitpensionierte Lehrer kennt Heiligenstadt und das umliegende Eichsfeld wie seine Hosentasche. Daß die Krankenkassen dem Kurtourismus gerade finanziell das Heilwasser abdrehen, geht ihm genauso gegen dem Strich wie dem Kurdirektor Alban Günther, der die Stadt am liebsten voller siechender Gäste sähe, die im Ratskeller Schonkost bestellen. Statt dessen sitzen in dem vor kurzem umgebauten Keller eine Handvoll Wanderer, die die goldenen Herbsttage für einen Ausflug nutzen wollten und nun wegen Regenwetters in die Stadt geflüchtet sind.
Daß es draußen regnet, ist für uns Kurgäste auf Probe kein Beinbruch. Derweil draußen die Wolken brechen, plantschen wir im Solebad, versuchen uns in Wassergymnastik und hätten gerne auch mal die Schwarzmeerpackung genossen. Doch leider ist am Wochenende das Heilerpersonal ausgeflogen, und so bleiben wir beim Wassertreten.
Das nächste Mal, in einigen Jahren, wollen wir aber unbedingt das ganze Programm durchnudeln: Tango-Fango, die Kneipptherapie, Massagen und zu guter Letzt die Beschäftigungstherapie. Da darf man Tabletts aus Korb flechten und Deckchen weben, der Fingergelenkigkeit wegen. Schwester Roswitha wird uns Tattergreise ganz gewiß loben.
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