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Wenn das Kondom platzt, hilft nur die Pille danach

■ In München wird im nächsten Jahr erstmals eine neue Form der Aids-Verhütung getestet

Es ist zwei Uhr nachts, als beim diensthabenden Arzt der Münchner Uniklinik die Klingel läutet. Vor der Türe steht ein junger Homosexueller, der schnelle Hilfe braucht. Der Mann hatte ungeschützten Sex mit einem infizierten Partner und will von einem neuen Serviceangebot zur Aids-Verhütung Gebrauch machen: der Pille danach. Wer riskanten Sex hatte oder wem das Kondom geplatzt ist, der kann womöglich durch rechtzeitigen Medikamenteneinsatz eine Ansteckung verhindern. Der Arzt klärt die näheren Umstände der Risikosituation. Da der Mann auch seinen Partner mitgebracht hat, der bestätigt, daß er infiziert ist, kann der Arzt sofort eingreifen und noch in derselben Nacht ein antivirales Mittel verabreichen.

Das hört sich wie Zukunftsmusik an, wird aber im nächsten Jahr im Rahmen der weltweit ersten Studien über die Pille danach in der Bundesrepublik und in den USA Wirklichkeit. Ärzte wollen untersuchen, ob die „Postexpositionsprophylaxe“ (PEP), so der medizinische Fachausdruck für den schnellen Griff zu antiviralen Medikamenten nach einer Risikosituation, tatsächlich etwas taugt.

Die wissenschaftlichen Daten sprechen dafür. Im Tierversuch kann eine Übertragung des Virus tatsächlich verhindert werden, wenn rechtzeitig virentötende Medikamente verabreicht werden. Auch die Ansteckung des Babies bei der Geburt durch die infizierte Mutter wird durch vorbeugende Gaben von Aids-Arzneien weitgehend vermieden. Ebenso ist die Wirkung beim medizinischen Personal belegt: Studien haben gezeigt, daß Ärzten, Schwestern und Krankenpflegern geholfen werden kann, die sich beim Blutabnehmen von Aids-Patienten mit der Nadel gestochen haben. Der sofortige Beginn einer vierwöchigen Behandlung reduzierte die Ansteckungsrate des medizinischen Personals um volle 80 Prozent. Trotz dieses spektakulären Erfolgs taten sich Ärzte schwer, die PEP versuchsweise auch beim Sex einzusetzen. Es darf spekuliert werden, ob für diese Zeitverzögerung ausschließlich medizinische oder auch moralische Gründe verantwortlich waren. Der Münchner Internist und Infektiologe Frank Göbel will jetzt den Anfang machen und im kommenden Jahr im Rahmen einer Studie erstmals bei Homosexuellen untersuchen, ob eine vierwöchige Kombinationstherapie eine HIV-Infektion nach riskantem Sex verhüten kann.

Göbel steht dabei allerdings vor einer Reihe gravierender Probleme. Da die Ansteckungsrate bei der HIV-Infektion weitgehend unbekannt ist – „das ist ein dunkles Feld“ – kann er den Erfolg seiner Therapie nur schwer beweisen. Er kann auch nicht der einen Hälfte seiner Patienten ein Scheinmedikament (Placebo) verabreichen und der anderen Hälfte die Virenkiller, um so den Effekt der Prophylaxe mit einem „Blindversuch“ nachzuweisen. Das wäre ethisch unvertretbar. Bleibt nur, die Sache anzupacken und alle Begleitumstände so exakt wie möglich zu dokumentieren.

Zunächst müssen sich aber die Patienten melden. Göbel befürchtet durchaus Schwellenängste. Wer fährt schon gern mitten in der Nacht in die Münchner Uniklinik, um dort einem wildfremden Arzt zu erklären, daß ihm vor zwanzig Minuten beim Analverkehr das Präservativ geplatzt ist? Oder wer gibt schon gerne zu, daß er ungeschützten Sex mit einem infizierten Freund hatte. Gleichwohl: Diese Dinge passieren täglich, sonst gebe es in Deutschland keine 2.000 Neuinfektionen im Jahr.

Göbel setzt auf die Unterstützung von Aidshilfen und Schwulen-Gruppen, die mithelfen sollen, Homosexuelle im Ernstfall zu motivieren, von dem Serviceangebot Gebrauch zu machen. Zusätzlich wird das medizinische Personal eigens geschult, damit es den Patienten vorurteilsfrei begegnet und mithilft, die als peinlich empfundene Situation aufzulösen. Noch in derselben Nacht sollen die Betroffenen ihre erste Arzneidosis erhalten. Es darf keine Zeit verlorengehen, um die in die Blutbahn eingedrungenen Viren abzutöten. Wichtigste Bedingung: Die Patienten müssen ihren Partner mitbringen. Nur so, glaubt Göbel, kann festgestellt werden, ob der vorbeugende Einsatz nicht ganz ungefährlicher und teurer Arzneien mit all ihren Nebenwirkungen gerechtfertigt ist. Zudem soll das Blut beider Partner analysiert werden. Göbel will feststellen, ob es in bestimmten Krankheitsstadien und bei bestimmten Virentypen häufiger zur Ansteckung kommt. Es muß zudem abgeklärt werden, ob der Partner möglicherweise selbst schon längere Zeit antivirale Medikamente nimmt und das Virus deshalb Resistenzen zeigt.

Wenn es Göbel gelingt, auf diesem Wege auch nur eine einzige Infektion zu verhindern, hätte sich der Einsatz schon gelohnt. Andererseits: Kann die Verfügbarkeit der „Pille danach“ womöglich die Safer-Sex-Kampagne unterlaufen?

Und wem wird man langfristig die Medikamente geben, wem wird man sie verweigern? Hat der brave Familienvater, der bei einer Prostituierten war und plötzlich Angst bekommt, ein Recht auf die Prophylaxe? Oder der Sex-Urlauber, der gerade von einer einschlägigen Reise zurückkommt? Die „Pille danach“ als Ersatz für verantwortliches Handeln? Eine schwierige Diskussion?

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