: Terror mit menschlichem Antlitz?
■ Erst als die Roten Brigaden sich von der Strategie der bewaffneten Propaganda zugunsten einer rein politisch- militärischen Auseinandersetzung verabschiedeten, besiegelten sie ihr Ende, meint ihr Mitbegrün
„Der Tod eines Klassenfeindes ist der höchstmögliche menschliche Akt in einer in Klassen aufgeteilten Gesellschaft“, so rechtfertigte Renato Curcio, Gründungsmitglied der Roten Brigaden, den Mord an Aldo Moro. Curcio saß zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre im Gefängnis. Heute ist er immer noch inhaftiert, wenn er auch tagsüber das Gefängnis zur Arbeit verlassen darf. „Ein selbstversicherndes Ritual“ nennt er die damalige Aussage, „einen Taschenspielertrick“: „Wir wußten, daß wir vor dem Ende einer historischen Erfahrung standen.“
Bereits vor fünf Jahren hat Renato Curcio, Gründungsmitglied der Roten Brigaden, dem Journalisten Mario Scialoja ein Interview gegeben, das nun endlich auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Es ist ein angenehmes Buch geworden: Curcio verzichtet auf ideologischen Ballast und Verbalradikalismus. Ein alternder Politiker, „ein freundlicher Mann“ (Scialoja), läßt seine Vorstellungen und taktischen Fehler Revue passieren. Curcio verteidigt die Roten Brigaden als realpolitisches Projekt.
Mailand, Spätsommer 1970: Die euphorischen Hoffnungen der Arbeiter- und Studentenbewegung sind verflogen, die Angst vor einem staatlichen Putsch geht um, und bei „Pirelli“ beginnen die ersten Entlassungen politisch mißliebiger Arbeiter. Wie sollen die Repression und die Stagnation der Bewegung überwunden werden? Die Roten Brigaden starten ihre erste Aktion, einen Brandanschlag auf das Auto eines „Pirelli“-Aufsehers. Die Aktionen der folgenden Jahre, Brandanschläge und symbolische Entführungen, finden Rückhalt in weiten Teilen der linken Bewegung.
Im Februar 1976 wird Curcio zum zweiten Mal verhaftet. Erst danach gehen die Roten Brigaden zu den ersten gezielten Mordanschlägen über. 1978 wird der Vorsitzende der Christdemokraten, Aldo Moro, entführt und nach 55 Tagen Geiselhaft ermordet. Curcio schiebt diese Änderung der Strategie auch Mario Moretti, einem Nachfolger in der Führung der Roten Brigaden, zu. Die Roten Brigaden seien vom Konzept der „bewaffneten Propaganda“ abgewichen und zu einem „extremen Niveau der politisch-militärischen Auseinandersetzung“ übergegangen, bilanziert er. Bei der Entführung von Aldo Moro „hing die Entscheidung nicht von mir ab. Ich hatte keinerlei Vertrauen.“ Moretti habe „technokratische Ansichten“ gehabt.
Die Roten Brigaden unter Curcio ein „Terrorismus mit menschlichem Anlitz“, ihr Verfall ein Problem des Führungswechsels? Mario Moretti war sicherlich ein politischer Technokrat, der sich als Antwort auf jede politische Niederlage nur verstärkte militärische Aktionen vorstellen konnte. Dennoch greift diese Erklärung Curcios zu kurz. Entscheidender für diesen Verfall war das ideologische Handgepäck der Brigadisten. Denn ihre „realpolitischen“ Aktionen begriffen die Roten Brigaden in der Tradition leninistischer Avantgarden, ergänzt um die Guerilla-Theorien Guevaras und Marighellas.
Der Notwendigkeit demokratischer Legitimation entbunden und die Logik der Systemkonfrontation verinnerlicht, setzte sich im Laufe der Auseinandersetzungen der gewöhnliche politische und moralische Verfall selbsternannter Avantgarden durch: Geiselhinrichtungen, immer wahllosere Mordanschläge, Ermordungen von Denunzianten, interne Spaltungen und Sektierertum. Schließlich tötete 1982 eine Gruppe der Roten Brigaden einen Wachmann, nur um dadurch Aufmerksamkeit für ein Papier über eine angebliche Verräterin zu erzielen. Für Curcio das Signal zum Abschied von den Roten Brigaden, den er 1987 gemeinsam mit Mario Moretti und anderen Exbrigadisten auch öffentlich verkündete.
Die Roten Brigaden gehörten einer abgeschlossenen Epoche politischer Kämpfe an. Zu der von Curcio geforderten politischen Aufarbeitung der siebziger Jahre ist es bis heute nicht gekommen. Die italienische Gesellschaft hat ebenso wie die deutsche ihre Mechanismen gefunden, sich nicht mit den politischen Ursachen des Terrorismus auseinanderzusetzen. In Italien verweist man dazu gerne auf die angebliche Kooperation der Roten Brigaden mit Geheimdiensten, die Curcio allerdings bestreitet.
In Deutschland argumentiert man mit den psychologischen Motiven der RAF-Gründer. Wenn in diesem Herbst in Deutschland abermals über Baaders Dandytum und Ensslins Eltern als Ursache für die Entstehung der RAF debattiert wird, dann empfiehlt sich der Blick nach Italien. Die Biographien der italienischen Stadtguerilleros geben wenig her für psychologisierende Erklärungsmuster. Gerade deshalb treten die Konstruktionsfehler der Stadtguerilla- Konzepte um so deutlicher zu Tage. Martin Reeth
Renato Curcio: „Mit offenem Blick“, ID-Verlag, Berlin 1997, 32 DM
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