Kopf und Bauch

■ Die paar Skandale: In der Ufa-Fabrik wird der 74. Geburtstag von Wolfgang Neuss gefeiert

Am 3. Dezember wäre Wolfgang Neuss 74 geworden. Anlaß für allerlei Würdigungen: Tonträger werden neu vertrieben (Conträr Musik in Lübeck), die Ufa- Fabrik richtet für Nachwuchskabarettisten einen „Wolfgang-Neuss- Salon“ ein, der am Mittwoch abend mit einigen Neuss-Filmen und einer Podiumsdiskussion eröffnet wurde. Am selben Ort werden ab dem 9. Dezember zudem noch mal Videos von den seltsamen 80er-Jahre-Ufa-Fabrik-Auftritten des verdienten Künstlers des Volkes gezeigt, und seine gesammelten Werke kommen jetzt bei Rogner & Bernhard bei 2001 raus.

Seltsam, diese wunderbare Textsammlung jetzt zu lesen, wenn man als schwarz gekleideter Student in den achtziger Jahren Wolfgang Neuss eher als impertinent- durchgedrehte Haschoma wahrgenommen hatte. Dann liest man das Buch in drei Tagen und wundert sich: über sich selbst von früher, über die Texte, die einem die Nachkriegsjahrzehnte West-Berlins sehr nahebringen, und über diese völlig durchgeknallten Dinge aus seiner Drogenzeit, die plötzlich gar nicht mehr so durchgeknallt wirken. Beeindruckt war ich vor allem: nicht so sehr von der unglaublichen Arbeitsleistung, die der Kabarettist und Filmschauspieler bis Anfang der 70er leistete, sondern eher von den biographischen Brüchen, von Neuss' Ausstieg aus einem selbstmörderischen Geschäft, dessen Betrieb den Zuschauern mehr Spaß machte als dem Künstler, der seine Maschine mit Tabletten jahrelang am Laufen gehalten hatte und sich dem dann verweigerte, in seiner asketischen Wohnung die Kunst der Innenschau zu lernen versuchte, Haschisch in unglaublichen Mengen rauchte, LSD propagierte und das Etikett Drogenwrack angeheftet bekam von den bestimmenden Medien.

Kaum möglich, sein Leben ganz kurz zu erzählen: Es begann mit kleinen Witzen an der Ostfront, mit denen der junge Soldat versuchte, sich aus der Schußlinie zu nehmen; es ging weiter mit einem Schuß, mit dem sich der Soldat von einem Finger trennte, um nicht weiter zu morden oder gemordet zu werden. Die Selbstverstümmelung verschwieg Neuss eine Weile, um sich's nicht mit seinem Publikum zu verderben. Dann Riesenerfolge mit seinem Lieblingspartner Wolfgang Müller und anderen und allein: Schon 1952 spielt Neuss vor 20.000 Zuschauern in der Waldbühne. Man gibt sich zunächst, wie's der Zeitgeist will: antikommunistisch-antifaschistisch.

Ein paar Skandale gab es dennoch, etwa als der SFB-Intendant 1955 bei einer Livesendung eine „technische Störung“ vortäuschte, weil ihm Neuss zu antimilitaristisch war, oder als Neuss 1962 in Zeitungsanzeigen, 30 Stunden vor Schluß der Durbridge-Krimi-Serie „Das Halstuch“, den Mörder verriet, damit sich die Leute statt fernzusehen lieber seinen Film „Genosse Münchhausen“ anschauen. „Wir Kellerkinder“ (1960) gehört zu den zehn größten deutschen Nachkriegsfilmen, unglaublich immer noch. Der Rest: Kabarettworkaholic, Versuche, sich mit den 68ern zu verbünden, die dem „bürgerlichen“ Künstler eher mißtrauen, wegen seiner SPD-Mitgliedschaft. Ab den 70ern Dysfunktionen, lange Haare, ständig Haschischrauchen. Absturz oder Ausstieg; der Versuch, unbekannt zu werden. 1976 Sozialhilfe. Seit 1982 merkwürdige Kolumnen in der taz. Er meinte, das dritte Auge zu haben, und war in früheren Leben oft eine Frau.

Ein seltsames Leben, eine Westberliner Biographie, sagen viele, wenn sie nicht „deutsche Biographie“ sagen wollen; eine Gestalt wie aus einem Roman von Thomas Pynchon. „Mehr als zum Onanieren“ reizte ihn „das Leben zum Sprüchemachen“. „Dein Brief stinkt von Unlust und Alkohol“, beschwerte er sich mal bei seinem Biographen Volker Kühn, der am vergangenen Mittwoch abend oft sehr schön in die Luft schaute, während Juppy-von-der-Ufa-Fabrik und Hanfaktivist und Ex-taz- Kulturler Mathias Bröckers von ihren Begegnungen mit Neuss erzählten, um dann wieder ganz präzise selber zu sprechen. Nie sonst in seinem Leben sei ihm eine derartige Kombination zwischen Kopf und Bauch begegnet; jemand, der mit dem Bauch dachte, um mit dem Kopf zu verdauen. Ein ganz schwieriger Mensch, der das Laue verabscheute, und „wenn er sagte, ich vermittel' jetzt, da wußte man: da ist jetzt der totale Terror angesagt“.

Zu viele Geschichten: Mathias Bröckers erzählt, der Spruch, auf deutschem Boden dürfe nie mehr ein Joint ausgehen, den Neuss 1983 im legendären Rededuell mit Richard von Weizsäcker zum besten gab, stamme eigentlich von dem Geburtstagsgruß eines BTM- Knackis. Durchaus aufreibend war die Zusammenarbeit mit Neuss für die taz-Kolumnen. Bedingung sei gewesen, in Neussschen Dimensionen frühmorgens mit ihm mitzurauchen. Jede Woche. „Du brauchst jetzt erst mal acht Semester Purpfeife“, hätte Neuss gesagt, der auch fand, das Sein selbst sei Satire. Detlef Kuhlbrodt