: Ruandas Gefängnisse als Kriegsobjekt
Extremistische Hutu-Milizen greifen überfüllte ruandische Gefängnisse an, um Völkermordverdächtige zu befreien und zu rekrutieren. Die Regierung steht zugleich unter Druck, die Haftsituation nicht zu entschärfen ■ Von Dominic Johnson
Berlin (taz) – Der seit einigen Monaten neu aufgeflammte Krieg in Ruanda zwischen der Regierungsarmee und Hutu-Milizen nähert sich der Hauptstadt Kigali. Nur etwa 50 Kilometer westlich von Kigali ereignete sich der jüngste Großangriff einer mehrere hundert Mann starken Milizeinheit, die am Mittwoch im Morgengrauen den Ort Bulinga nahe der zentralruandischen Stadt Gitarama attackierte. Die Milizionäre stürmten das Gefängnis, befreiten über 630 Häftlinge und zündeten beim Rückzug Häuser von Tutsi- Überlebenden des Völkermordes von 1994 sowie das örtliche Verwaltungsgebäude an.
Am Dienstag waren bei einer anderen Operation der Hutu-Milizen 103 Häftlinge aus einem Gefängnis im Nordwesten befreit worden. Zugleich töteten die Angreifer im Dorf Mutura die zehnköpfige Familie des örtlichen Verwaltungschefs. Und erst vor zehn Tagen waren bei der bisher größten Schlacht zwischen Armee und Milizen über 300 Menschen ums Leben gekommen, als die Milizen das Gefängnis von Giciye im Nordwesten Ruandas angriffen. Die Hutu-Milizen, Nachfolger der Völkermordorganisationen von 1994, kehrten Ende 1996 zusammen mit den ruandischen Hutu-Flüchtlingen aus dem damaligen Zaire in ihre Heimat zurück und kämpfen seitdem mit schätzungsweise 15.000 Milizionären gegen die heute in Ruanda regierende ehemalige Tutsi-Guerilla „Ruandische Patriotische Front“ (RPF). Nach Meinung der Regierung versuchen die Milizen, die Präfekturen Gisenyi und Ruhengeri zu erobern, um dann die Aufnahme von Verhandlungen zu fordern. Gespräche mit den Milizen lehnt die Regierung jedoch ab, weil sie ihnen vorwirft, den 1994 unvollendet gebliebenen Völkermord an Ruandas Tutsi weiterführen zu wollen.
Die Aktivitäten der Milizen haben sich inzwischen von den Nordwestpräfekturen Gisenyi und Ruhengeri, Heimatregion des früheren ruandischen Hutu-Regimes, auf die zentralruandischen Präfekturen Gitarama und Kibuye ausgeweitet. Um dem zu begegnen, wurde diese Woche der Chef des ruandischen Militärgeheimdienstes, Karenzi Karake, zum Armeekommandeur von Gitarama und Kibuye ernannt.
Daß die Milizen neben Tutsi-Zivilisten bevorzugt die überfüllten ruandischen Gefängnisse angreifen, in denen über 120.000 Menschen unter Verdacht der Beteiligung am Völkermord von 1994 einsitzen, ist logisch: Hier finden sie nicht nur ideologische Verbündete – die Befreiung von Häftlingen beschert den Milizen auch personelle Verstärkung. In Ruandas Gefängnissen saßen im November nach Presseberichten 121.571 Menschen ein; nur 229 Gerichtsverfahren wegen Völkermordbeteiligung sind jedoch bisher abgeschlossen worden, und 64.972 der Häftlinge sind noch ohne Anklage, obwohl nach geltendem Recht alle Gefangenen bis Ende 1997 einem Richter vorgeführt worden sein müssen.
Die Überfüllung der Haftanstalten ist ein ideales Mobilisierungsthema für die Hutu-Milizen. Zugleich kann die Regierung hier kaum nachgeben. Sie steht vor allem im ruandischen Parlament unter Druck der Selbsthilfegruppen von Völkermordüberlebenden, der sogenannten rescapés, die sich in letzter Zeit organisiert und erfolgreich mehr staatliche Gelder eingefordert haben. Als die Regierung kürzlich 2.129 Häftlinge freiließ, um die Justiz zu entlasten und ausländischen Kritikern der ruandischen Haftbedingungen entgegenzukommen, gab es empörte Proteste von rescapés, die von einer „politischen Entscheidung“ sprachen. „Die Demonstranten sagen, sie würden lieber im Gefängnis leben als zusammen mit Völkermördern in Freiheit“, sagte ein Rechtsanwalt gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Nach einer solchen Demonstration landeten zehn der soeben Freigelassenen wieder in Haft.
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