: 999 Fragen und keine Antworten
Schlaglichter einer Reise durch das unergründliche China. Wang Lianyi, PR-Leiter und Direktor des Ausbildungszentrums von Chinas größtem Reiseunternehmen, steht Rede und Antwort. Er gibt Hilfestellung bei der verwirrenden Reise durch das fremde Land ■ Von Asmus Heß
„Sie werden sich in einem Land aufhalten, in dem die Wertvorstellungen, die Mentalität, die Lebensregeln, der Schönheitssinn, die Lebensweise, die Sitten und Gebräuche ganz anders sind als die in Ihrem Land. Darum rate ich Ihnen, einige authentische und niveauvolle Bücher oder zuverlässige Informationsquellen über China zu lesen.“(Wang Lianyi)
Das Betreten von chinesischen Geschäften lohnt sich. Unter mehreren Tonnen Ramsch, die grundsätzlich reißenden Absatz finden, versteckt sich immer das eine oder andere Kleinod. Man muß es nur finden. Das braucht Zeit, bis ich es endlich in den Händen halte: 387 gebundene und eng bedruckte Seiten, die mir ein Land voller Rätsel und beständig überall hin spuckender Männer erklären sollen. Der Autor, Wang Lianyi, war laut Klappentext des Buches Oberschiedsrichter bei den Wettbewerben chinesischer Reiseführer, demnach also berufen, ein bahnbrechendes Werk über China und seine Bewohner zu schreiben. „999 Fragen und Antworten“ heißt es.
Wang hat sich bemüht, nur die wirklich wichtigen Fragen zu behandeln. „Wie ist die Lebensweise der Chinesen?“ lautet beispielsweise Frage Nummer sieben. Sie ist „interessant und abwechslungsreich und unterscheidet sich offensichtlich von der der anderen Nationen“, meint Wang. Die Chinesen, so stellt der Tourismusexperte mutig fest, „streben nach einem natürlichen, harmonischen, einfachen und geruhsamen Leben“. Schade nur, daß Wang es oft an Beispielen fehlen läßt. Wo diese doch auf der Straße liegen. Pardon: fahren.
Wir chartern das Taxi nach einem Tag in der Verbotenen Stadt. Der Fahrer entpuppt sich als adäquater Ansprechpartner für kulinarische Fragen. Li Tie Ying gibt gerade Restauranttips, als er das Steuer herumreißt, um schwungvoll an einer Kreuzung nach rechts abzubiegen. Eine Skunde später findet sich eine Passantin auf seiner Kühlerhaube wieder, die der Fußgängerampel vertraut und den Mut besessen hatte, die Straße bei Grün zu überqueren. Verständnislos guckt die junge Frau durch die Frontscheibe in das Taxi hinein. Li hingegen signalisiert ihr mit ungeduldiger Miene, endlich das Feld zu räumen. Ohne die geringste Klage leistet die Dame der Aufforderung Folge – sie krabbelt von der Kühlerhaube hinunter und humpelt zwei Meter weiter zur rettenden Verkehrsinsel. Li drückt erneut das Gaspedal durch.
Peking, stellt meine chinaerfahrene Reisebegleiterin konsterniert fest, „hat sich ganz schön verändert“. Vor einigen Jahren bekam sie von einem Verkehrspolizisten eine Verwarnung wegen „Raserei“ – damals war sie nicht mit dem Auto, sondern mit dem Fahrrad in den Straßen der Millionenmetropole unterwegs.
Nur eine blockierte Kreuzung ist eine gute Kreuzung – das ist in Peking gesellschaftlicher Konsens. Spezialisten für diese Art der Verkehrssabotage sind die Taxifahrer, die sich im „Learning by doing“- Verfahren täglich neue Tricks und Kniffe aneigenen, um den Fluß der Blechlawine zu hemmen. Ihre wichtigste Waffe ist die Hupe. Die vielen „Hupen verboten“-Schilder am Straßenrand beantwortet der typische Taxifahrer mit einem milden Lächeln und Dauerhupen.
Lächelnd setzt Li uns vor dem Andingmen-Hotel ab, einer Absteige, die uns per in Plastik eingeschweißtem Zettel über das hauseigene Verbot informiert, nukleare und andere schwere Waffen im Zimmer aufzubewahren oder gar zu benutzen.
Irgendwann in den letzten Jahren muß ein chinesischer Hotelbesitzer in den Vereinigten Staaten gewesen sein. Was er dort wollte und tat, bleibt wohl für immer sein Geheimnis, doch eines ist sicher: Im Bad seines Hotelzimmers entdeckte er einen über den Toilettendeckel drapierten Papierstreifen, auf dem in großen Lettern „disinfected“ geschrieben stand.
Seitdem werden in vielen chinesischen Hotels zwar nicht die Toiletten desinfiziert, dafür aber mit einem entsprechenden Papierstreifen verziert. So läßt sich ohne viel Arbeit und Aufwand auf einfache Weise Vertrauen zwischen ausländischen Gästen und den chinesischen Hoteliers schaffen.
Auf dieses Vertrauen legt auch Wang Lianyi allergrößten Wert. Rührend ist er jederzeit bemüht, die Sorgen seiner mit dem Land nicht vertrauten Leser zu zerstreuen. Die Hotels, meint Wang – und beruft sich ausnahmsweise einmal nicht auf seinen Sachverstand, sondern auf das Urteil ausländischer Besucher – seien nicht schlechter als die in Paris, New York oder Sidney.
Der Mann an der Rezeption eines Pekinger Backpacker-Hotels ist da anderer Ansicht. Er empfiehlt uns mit liebenswerter Offenheit, nicht in „seinem“ Hotel abzusteigen, da alle anderen der Stadt deutlich besser seien. Um seiner Warnung Nachdruck zu verleihen, enthüllt er grauenvolle Details der sanitären Situation in den Zimmern. Hier hatte Wang Lianyi nicht für sein Buch recherchiert.
Nachdem der Mann an der Rezeption außerdem bilderreich auf die verschiedenen Sorten Ungeziefer eingeht, die sich ihren Lebensraum in den Teppichen und Betten erschlossen haben, bricht unser Widerstand zusammen. Zwei Querstraßen weiter finden wir eine Unterkunft, die dreimal so teuer ist, dafür aber nur die Hälfte der Schilderungen wahr werden läßt.
Ein Mittelklassehotel in Xiamen an der Ostküste. Frühmorgens schleppt ein ausländisches Pärchen zwei Rucksäcke aus dem Zimmer 422 an die Rezeption. Ein Hotelangestellter liegt in der Eingangshalle auf einer Pritsche und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Aus einem kleinen Zimmer erscheint die Rezeptionsdame, im Morgenrock. Sie gähnt. Die Touristin spricht sie an:
„Guten Morgen, wir reisen jetzt ab und möchten noch unsere Telefonrechnung bezahlen.“
„Hat es Ihnen bei uns gefallen?“
„Ja, es war sehr schön, aber wir müssen jetzt leider weiterreisen und haben es sehr eilig, weil unsere Fähre gleich ablegt. Deswegen möchten wir noch ein Telefongespräch von gestern bezahlen.“
„Telefongespräch?“
„Ja, wir haben telefoniert. Gestern.“
„Ah ja, Moment, kann ich mal Ihre Zimmerkarte sehen?“
Die Touristin sucht im Rucksack nach der Zimmerkarte. Inzwischen ist der Hotelangestellte aufgestanden und hat damit begonnen, einen Wust von Papierfetzen zu durchsuchen. Die Rezeptionsdame widmet sich einem anderen Zettelstapel. Die Touristin findet die Zimmerkarte und legt sie auf den Tresen. Eingehend studiert die Rezeptionsdame das Dokument, aus dem zu ersehen ist, daß am Vortag 600 Renmenbi für vier Übernachtungen gezahlt worden sind. Nach zwei Minuten intensiven Nachdenkens holt sie 600 Renmenbi aus der Kasse und zählt sie auf den Tresen. Die Touristin und ihr Begleiter blicken verstört.
„Nein, nein, Sie mißverstehen uns. Wir waren hier Gäste, und deswegen mußten wir Geld bezahlen, nicht Sie. Sie bekommen sogar noch mehr davon, wenn Sie uns nur die Telefonrechnung bezahlen lassen. Wir haben es eilig, unsere Fähre geht gleich.“
„Ach so, Sie haben telefoniert?“
„Ja, wir haben im Zimmer 422 gewohnt.“
„Und haben Sie schon bezahlt?“
„Ja, das steht doch auf der Zimmerkarte!“
„Zimmer 422?“
„Jaaaaahhhhh.“
„Ah ja, einen Moment.“
Die Rezeptionsdame öffnet, einer Eingebung folgend, eine weitere Schublade und holt einen dritten Stapel Zettel hervor. Staunend blättert sie den Packen durch.
„Was ist das? Das sind ja alles unbezahlte Telefonrechnungen!“
Im Laufe unserer Reise entlang der chinesischen Ostküste erweist sich Wangs Buch als unentbehrliches Nachschlagewerk. Wir bekommen nicht nur Antworten auf nie gestellte Fragen („Wie ist die Kapazität des Lufttransportes in China?“), sondern können uns auch über Dinge informieren, die uns noch nie interessiert haben („Wie ist die Kapazität der chinesischen Eisenbahn?“), doch angesichts rappelvoller Züge und verbissen um Fahrkarten kämpfender Menschen plötzlich von dringender Aktualität erscheinen. Die besondere Leistung des Buchs besteht jedoch darin, auf einigen Seiten den Chinesen als solchen zu erklären. Kurz zusammengefaßt braucht ein Chinese demnach nicht mehr als eine bezaubernde Landschaft, prachtvolle Blumen und einen vollen Mond, um sich selbst zu verwirklichen. Chinesen, berichtet Wang, „wandern im Frühling ins Grüne, bewundern im Sommer die Lotusblumen, besteigen im Herbst Berge und genießen im Winter den Schneefall“. Ihre Lebensweise habe vier wichtige Prinzipien: „Sich dem Klima anpassen, eins werden mit der Natur, alle Dinge miteinander koordinieren und die menschlichen Beziehungen beachten.“
Das Zauberwort heiß „guanxi“ und meint die persönlichen Beziehungen. Ohne Kontakte geht in China wenig. Oder nichts.
Shan Dong Mei und Fujin sind jederzeit bereit, über ihr Einkommen Auskunft zu geben, doch wie sie sich bei den ungemein kargen Zuwendungen für Universitätsgelehrte einen zwei Jahresgehälter verschlingenden Einbauschrank in der neuen Wohnung, einen Computer und einen Scanner leisten können, darüber schweigen sie sich beharrlich lächelnd aus.
Wang hat die 999 Fragen in seinem Buch an sich selbst gestellt. Die letzten drei Fragen lauten: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben? Welche Besonderheiten hat Ihr Buch? Wollen Sie noch etwas über Ihr Buch sagen? Da diese drei Fragen von entscheidender Bedeutung für das Verständnis seines Werkes sind, hier eine kurze Zusammenfassung:
Er habe dieses Buch geschrieben, antwortet Wang sich selbst, weil er sich über 30 Jahre mit dem Tourismus beschäftigt habe, Abteilungsleiter und Chafsekretär des Staatlichen Reisebüros gewesen sei und heute als PR-Abteilungsleiter und Direktor des Ausbildungszentrums von CITS, der größten Reisegesellschaft Chinas, arbeite – und schließlich und letztendlich, um den Wissensdurst der Touristen zu stillen.
Sein Buch sei ein „wertvolles Nachschlagewerk über den chinesischen Tourismus“, da es über Städte und Sehenswürdigkeiten informiere, es sei informativ, da es auch die chinesische Küche vorstelle, und es sei sehr praktisch, da es 999 Fragen und die Antworten enthalte.
Jeder China-Reisende werde sich jedenfalls freuen, freut sich Wang, wenn er Antworten bekäme, ohne erst die Fragen stellen zu müssen. „Ich hoffe“, formuliert er gekonnt seinen letzten Satz, „das Buch gefällt Ihnen.“
Wang Lianyi: „China Reisen: 999 Fragen und Antworten“. Verlag Volkschina, Peking 1996
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