: Die Dekonstruktion des Trivialen
„Verbotene Liebe“: Seit sich das inzestuöse Zwillingspärchen verabschiedet hat, leidet die „Lux“ unter den Seifenopern nicht nur an Zuschauerschwund ■ Von Christoph Schultheis
„Weiterhin Spitzenreiter unter den Dailies: Was wollen wir mehr! Der Weg ins nächste Jahrtausend ist uns sicher“, hatte Enrique Sánchez Lanch, Producer der ersten deutschen Daily Soap im Ersten Deutschen Fernsehen, noch Anfang Juli unter den internen, monatlichen Einschaltquoten-Aushang gekritzelt. Ähnlich enthusiasmierend stand dort im August: „Herzlichen Glückwunsch!“ Und im September „Weiter so!“
Solange die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) der köllschen Daily Monat für Monat bescheinigt, daß Tag für Tag über jeden fünften eingeschalteten Fernseher „Verbotene Liebe“ (VL) flimmert, solange scheint die Soap- Welt noch in Ordnung. Zumindest auf dem Papier. Auf dem Bildschirm indes und damit für die rund 2.500.000 Zuschauer sieht es derzeit eher trist aus...
Das war nicht immer so. Im Gegensatz zu den allzeit tristen Allerweltswelten der täglichen Konkurrenten von „Marienhof“ bis „GZSZ“ wußte die „Verbotene Liebe“ das alltägliche Freud-und- Leid-Karussel von Anfang an mit einer gehörigen Portion Courths- Mahlerscher Groschenromantik in Schwung zu halten. Unbeirrt reimte der Hautevolee-Clan rheinischen (Geld-)Adels Folge für Folge „Herz“ auf „Schmerz“, „heile Welt“ auf „Geld“ und „Heulen“ auf „Zähneknirschen“. Allein die Frage, welche Lösung das (zumal öffentlich-rechtliche) Fernsehen dereinst für die verbotenen Inzesttriebe des titelgebenden Zwillingspaars Jan und Julia finden würde, mochte selbst für manchen Soap-Verächter Grund und Vorwand genug gewesen sein, pünktlich um 17.55 Uhr einzuschalten.
Zwei Jahre lang ging das so. Und gut ging's. Bis zu jenem schwarzen Freitag im März dieses Jahres, als Anchorwoman Julia um genau 18.19 Uhr vor den Augen ihres geliebten Anchorbruders und im Beisein weiterer 2,8 Millionen Augenzeugen abhanden kam. Nimmermehr ward sie gesehen und der rote Faden, auf dem die vorangegangenen 522 Folgen aufgefädelt worden waren, zerrissen. Gut einen Monat später dann, ebenfalls um 18.19 Uhr, erschien anstelle der ach so zauberhaften, rosaroten Lichtgestalt Julia plötzlich eine kurzbeinige Oma aus Westerfelde auf der Bildfläche.
Seither, so muß man mit Bedauern feststellen, seither schmiert sie ab, die Lux unter den deutschen Seifenopern. Mit dem redundanten Auftritt von Ruth Brück als Oma Prozeski nämlich rutschte die liebgewonnene Seifenoperette vom originären Kitsch in ordinäre Kitschigkeit ab – und die Quote in den Keller: Erstmalig in der Geschichte der „Verbotenen Liebe“ schauten Ende September wochenlang einige hunderttausend weniger zu als im Vorjahr, und die 20 Prozent Marktanteil, mit denen Producer Sánchez Lanch sich auf den Weg ins nächste Jahrtausend machen wollte, sind inzwischen so sicher nicht mehr. Nein, wenn sogar im offiziellen Internet-Forum (siehe VL-Fan-Chat-Kasten) die Fans nicht umhin kommen, ihre Lieblingsserie als „stinklangweilig“, „öde“ und „Kinderscheiße“ zu bezeichnen, dann sollten wir uns ernsthaft Sorgen machen.
So eine Oma Prozeski ist eben nicht nur äußerlich ein Gegenbild zur Julia von Anstetten, sondern als konservativ-rüstiger Arbeiterfamilienvorstand zugleich Künderin vom nahenden Untergang des seriellen Großbürgertums. So kam es, wie es kommen mußte: Kaum war der Oma eine eigene Wohnkulisse gezimmert, eine zur spießigen Einrichtung passende Familie ins Drehbuch geschrieben worden, machte sich mancher All Star davon. Schon bald war Gero in New York, Sophie in Frankfurt, Gina in London, Jan in München, Ramon in Caracas, Clarissa entführt – und die „Verbotene Liebe“ kleinbürgerlich wie eine Packung „Herta Finesse“, jenem „hauchzarten Schinken“ unseres großen deutschen Fleischwurstfabrikanten, der die Abendbrotberieselung inzwischen auch sponsert.
Das Häuflein neuer Gesichter und Geschichten jedenfalls, das seit Omas Einstand die Mattscheibe bevölkert, stelzt durch die Folgen, als wäre die Daily Soap just erfunden worden – oder Bravos Dr.-Sommer-Team als Drehbuchschreiber verpflichtet: „Ich will Profifußballer werden, aber meine Freundin findet, ich hätte zu wenig Zeit für sie (Nick, 18)“ – „Ich bin total verliebt. Aber mein Freund ist ein Arschloch. (Kati, 16)“ – „Ich bin total verliebt. Aber der süße Boy hat nur Augen für meine Schwester (Milli, 14)“ – „Hilfe, meine Goldfische sterben! (Nick, 16)“ und so fort. Braucht es, so fragt sich der Fan ebenso wie der leidenschaftslose Programmbeobachter, für derlei Pipifax tatsächlich noch eine eigene Soap?
Der Erfolg des Trivialen erwächst aus der Kluft zwischen kleinem Mann und großer Welt, oder, wie es das Meyers Lexikon formuliert, aus einer „gefühlsmäßig an bestimmte Personen bindenden Figurengestaltung“ sowie der „schicksalhaften Entstehung bzw. vom Zufall bestimmten Lösung von Problemen, die zumeist entgegen der Erfahrung in der alltäglichen Wirklichkeit zu einem glücklichen Ende geführt werden, eine Traumwelt suggerieren und den Wunschvorstellungen des Publikums entgegenkommen“. Wie die Trivialliteratur in den Groschenheften lebte auch die „Verbotene Liebe“ dazumal von der Kluft zwischen Zuschauer und Zugeschautem. Nun aber, da alle naselang irgendwelche Prozeskis, ganz in Einklang mit der Erfahrung in der alltäglichen Wirklichkeit, durch Traumwelt und Wunschvorstellung des gemeinen Zuschauers geistern, da Sozialneid und Bewunderung für die Rich & Famous auch innerhalb der Serie thematisiert werden, macht sich die „Verbotene Liebe“ selbst gemein – und den Zuschauer überflüssig!
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