Gedichte und andere Grausamkeiten

■ Schau mich nicht so böse an gibt humoristische Einblicke in weihnachtliche Abgründe

Jedes Jahr zur Weihnachtszeit bietet die studentische Arbeitsvermittlung TUSMA in Berlin einen Nebenjob der besonderen Art. Wer Mut zur Verkleidung und Lust an skurrilen Familiensituationen hat, kann am Heiligen Abend als Weihnachtsmann oder Engelfrau seinen großen Auftritt haben. Natürlich mit schneeweißem Rauschebart und roten Kapuzenmantel bzw. Glitzerkostüm und Styroporflügelchen. Kunden sind überwiegend Eltern, die ihren kleinen Kindern zuliebe das Märchen vom Weihnachtsmann noch einmal wiederbeleben wollen. Man kann sich leicht vorstellen, daß die Wirklichkeit dabei ihre satirischen Züge preisgibt. So dachte auch Regisseur Michael Chauvistré und entschloß sich, einen Dokumentarfilm über die Arbeit der Profi-Weihnachtsmänner zu drehen. Herausgekommen ist dabei ein urkomischer, schrulliger Film, der nicht nur zeigt, wie heute das „Fest der Feste“gefeiert wird, sondern darüber hinaus jedem einzelnen Zuschauer seine ganz persönlichen Weihnachtserinnerungen beschert.

Bevor es losgehen kann, muß alles gut vorbereitet werden. Chauvistré beginnt seine Dokumentation in einem Hörsaal, in dem 350 Weihnachtsmänner und rund 50 Engel mit den wunderbarsten Verstimmungen Oh Tannenbaum grölen. Anschließend bekommen sie noch eine Einführung: Ein Weihnachtsmann trägt keine Armbanduhr und ist nie ungeduldig. Außerdem beherrscht er selbstverständlich ein beachtliches Repertoire von Weihnachtsliedern, so daß er notfalls auch in den Gesang von Stille Nacht, heilige Nacht problemlos einstimmen kann. Dann folgen Bestellungsannahmen, Terminabsprachen, einige Informationen über die Kinder müssen erfragt werden: Name, Alter, besonderes Benehmen. Der kleine Jens hat vor kurzem seine Oma in den Finger gebissen. Wenn der Weihnachtsmann aus seinem goldenen Buch vorliest, sollte der ungezogene Beißer dafür gescholten werden. Weihnachtsmänner kommen ja nicht zur bloßen Unterhaltung, sondern haben durchaus auch pädagogische Pflichten zu erfüllen.

Bei alldem hält sich die Kamera von Michael Chauvistré auffällig zurück. Die Schnitte sind nahezu unmerklich, alberne Situationen beim Telefonieren - „Beethovenstraße 4b? D? Also Deethovenstraße? Ach so: 4d“- bleiben erhalten und auch die Hauptdarsteller bleiben die Laien, die sie sind.

Dann wird es ernst. Die himmlischen Heerscharen schwärmen aus, die Kinder der finsteren Großstadt den Weihnachtsmänner-Glauben zu lehren. Eine halbe Stunde haben sie jeweils Zeit. Entweder im Auto, mit der Straßenbahn oder auf dem Fahrrad fahren sie von Termin zu Termin. Vor dem Eintritt in die Privatsphäre atmen sie noch einmal tief durch, packen noch rasch die Geschenke der Eltern in einen großen Kartoffelsack, begrüßen die überraschten Kinder und lassen sich von ihnen einstudierte Weihnachtslieder und Gedichte vortragen, bevor es zur heißersehnten Bescherung kommt. Lieber, lieber Weihnachtsmann / Schau mich nicht so böse an: die Ehrfurcht der Kleinen vor den Weißbärtigen ist verblüffend groß. Und so kommt es, daß sie vor Aufregung ins Stocken geraten und mit flehendem Blick die Unterstützung der Eltern erbitten.

Auch die Privatheit scheint durch die einfühlsame Kamera Michael Chauvistrés völlig ungestört. Der Zuschauer wird zum Voyeur, den distanzierte Schadenfreude und spiegelbildliche Scham hin- und herreißt. Wer erinnert sich angesichts solcher Szenen nicht an die hohen Erwartungen in überspannter Wohnzimmeratmosphäre und an aufgeregte Kinderherzen? Nie zuvor war Weihnachten so unterhaltend und abgründig zugleich. Joachim Dicks

Abaton