Lenker mit nur einem Arm

Immer mehr Leichen liegen auf den Straßen der Berliner Problemviertel. Gerne pissen Männer in stehengelassene Trabis. Andere setzen grundlos ihre Fahrräder aus  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Anfang der neunziger Jahre, im Anschluß an den Anschluß, war die Stadt bevölkert von Trabiund Wartburg-Leichen. Überall ließen die optimistischen Anschlußbürger ihre Trabis stehen und kratzten die Identifikationsnummer raus. Aus dem Familienstolz wurden Mülltonnen, in denen Mitmenschen recht gerne Cola- Dosen und gebrauchte Sexhefte entsorgten. Die liegengelassenen Autos rochen immer ein bißchen nach Pisse, denn vielen Männern macht es Vergnügen, in liegengelassene Autos zu pissen. So sind die drauf; das ist so ihr Ding. Mittlerweile gibt es aber nicht mehr allzu viele liegengelassene Autos in der Stadt. Statt dessen stehen immer mehr verlassene Fahrräder in der Gegend herum. Sehr seltsam. Wenn man erst einmal angefangen hat, darauf zu achten, sieht man immer mehr. Vor allem in Neukölln, Kreuzberg und Schöneberg, aber auch in Mitte und Prenzlauer Berg. Unzählige Fahrradleichen in unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Zunächst fehlen nur die Ventile (das Pneuma für die Theologen unter den Lesern), und es ist noch unklar, ob die Fahrradbesitzer nicht doch noch reuig zurückkommen, dann verschwinden Reifen und Schläuche. Felgen machen sich aus dem Staub, Witterung tut auch ihr Teil und die marodierende Jugend dort draußen in meinem Problemkiez, die vor einem Jahr das Fahrrad eines Feindes wohl zunächst zusammentrat, um es dann an einem Straßenschild aufzuhängen. Das war sehr schockierend. Sehr bewegte mich auch gestern ein Fahrrad in der Gneisenaustraße, das nur noch einen Arm hatte. Da war der Lenker wohl plötzlich entzweigebrochen. Der Halter stellte es ab und verschloß es; mit so einem wollte er nicht gesehen werden. Behinderte stoßen auf Ablehnung. Niemand half dem Fahrrad; so steht es immer noch ganz traurig im Regen. Die Zukunft vor Augen, paar Meter weiter weg nur ein anderes, das war mal und jetzt nur noch blanker Knochen; was heißt blank; ein verrosteter Rahmen in Kreuzberger Verhältnissen beim Edeka da an der Ecke. Schwarze Schlösser, die ohne was dran hier und da herumhängen, deuten auf noch mehr gemordete Zweiräder.

Das Fahrrad: gestern noch ein guter Freund, heute schon weggeworfen. 50 Fahrräder hab' ich gezählt im Umkreis von einem Kilometer in meiner Gegend. Das Bild des umweltbewußten Fahrradsensibelchens – ein Märchen für Kinder. Sie setzen sie aus, sie lassen sie stehen, sie spucken noch drauf; nur ein Bruchteil der Fahrradbesitzer, die nicht zurückkamen ohne Zigaretten, fiel schlimmen Verbrechen zum Opfer und ist so entschuldigt. Statt daß die geizigen Fahrradwegwerfer ihre Freunde unabgeschlossen aussetzen – nein! Abgeschlossen müssen sie sein. Obgleich die Schlösser, an denen selbst noch die runtergekommensten Fahrräder hängen, gewöhnlich teurer sind als die Fahrräder selber. Komisch. Verschiedene Verstehensansätze drängen sich auf und wollen berücksichtigt werden: Mißgunst gegenüber denen, die möglicherweise ein Fahrrad brauchen könnten, Haß auf das Gefährt, das im falschen Moment schlappmachte, Mord und Totschlag, ganz sicherlich auch, doch vor allem wird's dran liegen, daß Fahrradfahrer 97 in Berlin vor allem Autofahrer sind.