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Boutique gleich hinterm Damenklo

■ Der Güterbahnhof verwandelt sich am 15. Dezember in eine riesige Atelier-Gemeinschaft. Heute beginnt die erste Ausstellung. Geboten sind heiße Würstchen und mehr. Wer arbeitet in den neuen Räumen: „Nur die Besten!“

Frontal vor das Überseemuseum stellen, dann stramm rechts vorbeimarschieren, einen Miniatur-Bahnübergang überqueren, durch eine endlose (ca 127m) rostrote Lagerhallenschlucht durchstechen! Der schneeweiße Gebäuderiegel am Ende, an dessem rechten Dachzipfel der ferne Fernsehturm wie ein Zementchristbaum aufzusitzen scheint, ist es dann: die neue Heimat für circa 55 Bremer Künstler, Durchschnittsalter um die 30. Im ersten Geschoß ist Platz nicht nur für Ateliers; sie sind zwischen 8,4 qm und 201 qm groß. Drei Galerieräume stehen bereit: für die „Werkstattgalerie“(für Grafik), die Galerie Herold und die Galerie G.Rulf, die „längste Galerie der Welt“. Im Ergeschoß tun sich Raumungetüme auf, in denen durchaus seltsame Skulpturenprojekte oder Rave-Partys Platz fänden

Erinnern wir uns, nicht nur weil Silvester naht. Vor knapp einem Jahr wurden die 33 Künstler der Ateliergemeinschaft des Güldenhauses schnöde vor die Tür gesetzt. „Lutz Erichsen, der Chef der Schnapsbrennerei, ist komplett idiotisch – kommt gleich hinter dem Tunnelverschönerungsverein Woltmershausen, kannste so schreiben“, quasselt Marion. Zusammen mit der nicht weniger resoluten Carola Beismann (ohne scharfes ß, aber das aus purem Zufall) trieb sie die Suche nach einer neuen Bleibe voran. Ohne Ende sichteten sie kaltgestellte Fabriken. „Wir kennen alles! Die ganzen Bremer Industrieleichen. Bei all diesen Firmen herrscht das große Warten auf den potenten Investor. Als könnte der vom Himmel fallen! Alles völlig irrational. Zum Beispiel das Nordmendegelände. Steht seit zwei Jahren leer und sieht heute aus wie die Bronx.“Jetzt sind sie froh, daß die Menschen der Wirtschaft die Horde aus der Kultur mit Ablehnung strafte. Denn nun quartierten sie sich in den Güterbahnhof ein. Und in den sind Marion und Carola verliebt. Treppenhäuser in verblaßtem, reizvoll-depressivem Taubenblau oder dem klassichen 60er Jahre Behördengelbton, endlose Gänge, Türen mit Arbeitsmoral erzwingenden Milchglas-Überprüfungsfenstern, riesige Verladehallen mit einem Fußbodenmeer aus Beton. So riesig, daß „Rauchen verboten“in mannshohen Lettern einschüchtert. Die beiden sind begeistert. Irgend jemand hat seine Rollerblades hinter eine Tür geschmissen. Die kann man hier gut gebrauchen.

Auf einem Kleiderspind reckt sich ein beachtliches Geschlechtsteil. „Polly, du Angeber“gesellt sich ein Spruch zur Erklärung hinzu. Noch weitere mysteriöse Hinweise auf diesen Herrn P. haben die beiden Künstlerinnen in dem Gebäudegedärm aufgespürt. Mit schiefen Mund grinst ein sympathischer Mann von einem Polaroid. „Ist das Polly?“, fragt Marion auf den Spuren Miss Marples. Jedenfalls wird man dem geheimnisvollen Unbekannten eine Ausstellung widmen. Vielleicht aber auch den schönen Rondellen, an denen viele kleine Stempel wie Karusellschiffchen hängen, oder den Hunderten von Schlüsseln, die die Deutsche Bahn AG ihren neuen Mietern hinterlassen haben. Die ideenschwangere magische Leere des Orts scheint Ideen blühen lassen, so bunt wie die Astern auf einem der wunderbar altmodischen DB-Werbeplakte. „Wir stehen mitten im Leben“, protzt ein anderes Plakat, ein Riesenplakat, aus fünf Meter Höhe herunter. Stimmt: Weil keiner der Fundschlüssel den Zugang zu einem Tresor öffnete, beginnt die Ateliergemeinschaft die Tätigkeit mit einer Grafik-Verkaufsausstellung. Jeder der Künstler schießt mindestens ein Bild zu.

Absolut selbstlos dagegen ist das Projekt einer Boutique hinter dem Damenklo. So ziemlich alles, was nicht eine Immobilie oder ein Dampfer ist, soll hier verkauft werden für eine Mark. Sogar Kunst. „Eine Kunstverwertungsboutique.“Eine Mark! Warum nicht ein wenig ökonomischer? „Ökonomisch, ach was“, rotzt Marion nasenflügelzuckend. „Wir wollen unseren Spaß.“Und man glaubt ihr blind, daß sie den haben wird.

Auf Carola Beismanns Schultern allerdings lastet auch ein anständiges Paket Verantwortung. Die Bahn schloß ihren Mietvertrag mit jedem einzelnen Künstler, sondern mit dem Verein 23. „Eine Vereinsleiche, die von uns wiederbelebt wurde. Man spart sich so einige Behördengänge.“Die Vereinsspitze heißt Beismann. Und so hat die Künstlerin darauf zu achten, daß die Mietüberweisungen ordnungsgemäß flutschen. Da sie im Güldenhaus gute Erfahrung mit der Zahlungsmoral machte, graut ihr davor nicht.

Der Vertrag beginnt mit dem 15. Dezember und läuft unbefristet. „Erstmal für immer. Schreib, daß wir hier erstmal für immer da sind“, juxt Marion, und freut sich, daß ihr schon wieder eine schräg die Wahrheit anpeilende Formulierung gelungen ist.

Gut gefällt ihr auch der Ausdruck „Umschlagplatz der Ideen“für den einstigen Umschlagplatz der Konsumware. Denn es sind nicht nur pragmatische Gründe, welche so viele Künstler aus allen Branchen (inklusive Filmkünstler) in die Interessengemeinschaft lockt. „Hier bekomme ich alles, was ich brauche, den Tacker, die Flex, das Gespräch.“Anregungen sind erwünscht, WG-Seligkeit aber nicht. „Wir sind nicht Worpswede Nummer 2. Kein Friede. Nicht Man-teilt-sich-alles oder so einen Mist.“

Was wollen sie dann? „Heiße Würstchen.“Will heißen: Hier kommt der Kunstkonsument zur Kunst, gleich wenn sie fertig ist, kann sogar bei der Produktion über die Schulter schauen.

Barbara Kern

Die erste Lieferung heißer Ware gibt es vom 18. bis 21. Dezember, 12-20 Uhr. Die bunte Verkaufsausstellung wird eröffnet heute um 20 Uhr.

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