: Traumzeit der Lieder
Get up, I feel like a Wunschmaschine: Jean-Martin Büttner hat die erste Fundamentalanalyse des Rocksongs geschrieben. Der Adler fliegt am Freitag, doch schon am Sonntag herrscht wieder Einkehr beim Gesetz ■ Von Thomas Groß
Das FBI ist daran gescheitert. 120 Seiten umfaßt die Akte, die in den frühen Sechzigern über „Louie Louie“ angelegt wurde, ohne daß die geheime, die jugendverderbende Botschaft darin hätte dingfest gemacht werden können. „Louie Louie, oh baby, away we go“, bescheidene Worte, dazu ein stupider Beat und ein Neandertaler Gitarrenriff – selbst Spezialagenten, die der Aufführung des Songs undercover beiwohnten, konnten diesen Code nicht knacken. Bis einem von ihnen ein Verdacht kam: Hörten die Leute genau das heraus, was sie wollten?
„Sie hörten. Sie wollten“, schreibt Jean-Martin Büttner in „Sänger, Songs und triebhafte Rede“, seinem großangelegten Essay über Rock als „Erzählweise“. Knapp 700 Seiten umfaßt (mit Anhang) das aus einer Dissertation hervorgegangene Werk, ein Backstein von Buch, der der Botschaft des Rock 'n' Roll an die Fundamente will. Mehr als 30 Jahre nach dem Lauschangriff des amerikanischen Staates geht es Büttner, Musikkritiker und Reporter beim Züricher Tages-Anzeiger, um die Frage, was genau Rocksongs ihren Hörern eingeflüstert haben, warum sich „Millionen von Menschen aus drei Generationen darin erkennen“. Und auch hier zunächst das Eingeständnis eines Scheiterns: „Über Rockmusik zu schreiben hat etwas Lächerliches“ – zumal auf deutsch, zumal am Fuß der (Schweizer) blauen Berge. Je näher man hinhört, desto ferner schreibt es zurück.
Das klingt ein wenig kokett angesichts des geradezu Proustschen Atems, mit dem der Autor im folgenden seine Sache verhandelt, hat aber gute Gründe. Nicht nur sträubt die Präsenz des Klangs sich schon medial gegen die Nachträglichkeit der Schrift, nicht nur ist Rock 'n' Roll im Verhältnis zu seinem 40jährigen Siegeszug (und zu minoritären Kunstformen wie Literatur und Bildende Kunst) bis heute eigenartig untertheoretisiert geblieben – als internationale akustische Traumfabrik von Mobilität und Rausch zwingt er immer auch und immer noch zur Parteinahme, konfrontiert den Analytiker mit seinen eigenen Wünschen: Oh, Baby, away we go...
Schienen, Schwellen, Intensivstationen
The Büttner's Escape aus diesem methodischen Dilemma ist, bei allem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, eine Form der Solidarisierung: Leugne die biographischen Spuren nicht, die der Gegenstand in dir hinterlassen hat, sondern integriere sie in deine Erzählung. Wenn Rock 'n' Roll von Schienen und Schwellen handelt, von Übertretung und Träumen von Übertretung, muß Schreiben selbst etwas von einer Reise haben.
Sie beginnt auf der Intensivstation. 1996, im Jahr vor Drucklegung, ist die große Rockverramsche auf einem neuen Höhepunkt angelangt, liegt der Patient dröhnend darnieder: Die Sex Pistols haben sich wiedervereinigt – zur Schnöder-Mammon-Tour, wie sie es selbst nennen. Nirvana, die „Roßkur eines Genres, das an seinen eigenen Produktionsbedingungen verfettete“ (Büttner), sind zu dem Zeitpunkt bereits zwei Jahre verblichen; Bruce Springsteen singt fürs Weiße Haus; Madonna ist Mutter geworden und bei der Operette gelandet. Rock ist MTVsiert, diversifiziert, gleichzeitig konzentriert, fünf Konzerne beherrschen zwei Drittel des Weltmarkts. Techno, das Dezentrale und historisch Neue – kein Wiederbelebungsversuch, eher Wiegenlied für eine Leiche –, gibt Büttner endgültig das Gefühl, über „die Vertreterinnen und Vertreter einer untergehenden Gattung“ zu schreiben.
Doch gerade vom Ende her kann das Wissen angreifen, läßt sich besser verstehen, wovon Rock erzählt. Im Zentrum seiner Mythologie stehen Bilder der Auflösung, wie sie bereits im Blues zur Sprache kamen – etwa in dem Klassiker „Tupelo“. Mit John Lee Hooker begibt Büttner sich in den Fluß des Songs hinab, folgt des Sängers Eingebung eines apokalytischen Regens, der die amerikanische Stadt Tupelo heimsucht und Mensch und Vieh mit sich reißt. Hooker erzählt aber nicht nur von Fluten, sein Vortrag ist selbst ekstatisch. Die Erkenntnis, mit der Büttner wieder auftaucht aus zitierten Zeilen und beschriebenen Intensitäten: Es geht hier weniger um Benennung als um Beschwörung. Sprache in Blues und Rock hat Rhythmus, poetisiert sich, wird melodisch. Sie folgt einem Mechanismus, den die Psychoanalyse „Regression“ nennt, aber nur als von der Couch aufsteigenden Wortstrom analysiert und duldet.
Aus dem Evangelium unberufener Propheten
Nur um Worte geht es im Rock aber gerade nicht – deshalb ist er zugleich mehr als Literatur. „You can't beat two guitars, bass and drums“, beschreibt Büttner mit Lou Reed das konkurrierende Setting, die klassische Rockbandbesetzung. Die Instrumente sind traditionell, doch die Handhabung kollektiv, körperlich und häretisch. Im Hintergrund stehen Maschinen, die einmal zur simplen Verstärkung von Klängen erfunden wurden, jetzt aber, traktiert von unberufenen Propheten (die die Bluessänger ebenso waren wie ihre weißen Adepten), etwas ganz anderes, viel Mächtigeres produzieren: Krach, Sound. Ein fundamentaler Einschnitt in der Übermittlung von Geschichten, die Kunde von ozeanischen Gefühlen geben: Das Wort des Erzählers fließt nicht aufs Papier, es wird auch nicht in einen Familienroman zurückübersetzt, es legt sich gewissermaßen ins Lotterbett der Verzerrungen und Rückkopplungen, die aus dem technischen Zeitalter aufsteigen.
Der amerikanische Theoretiker Michael Ventura, den Büttner auch einmal in den Zeugenstand beruft, hat den Wunschcharakter des Rock 'n' Roll in einer verbalerotischen Auslegung seines Namens beschrieben: „Rock, der Stein, kann in deine Hand passen, kann aber auch der ganze Planet sein. Als Verb stürzt sich rock aus der Festigkeit seiner Objektdefinition in die Bewegung, schwingt vor und zurück, von Yin nach Yang, schaukelt. Roll ist als Hauptwort süß. Saftig. Weich. [...] Als Verb (Roll the verb!) kann das Wort rollen, und es rollt bis in alle Ewigkeit.“
Möglich ist das nur, weil Rock die Vermischung mit dem Anderen und Fremden, den außereuropäischen Ekstasetechniken und den neuesten Klangeffekten nicht nur nicht gescheut, sondern geradezu gesucht hat. Rock ist ein Bastard – „die Kreuzung des barbarischen Afrika mit einem verkommenen Amerika“ (Büttner). Weit ist der Weg, den er zurückgelegt hat von den Sklavenschiffen, mit denen seine Erzählweise eingeschleppt wurde, bis hin zu den Kinderzimmern weißer Teenager, die ihn im Radio oder auf dem Tanzflur hörten – und nachahmten. Doch noch in der vielfachen Entstellung seiner Botschaften handelt er vom Urschlamm, von (Stammes-)Königen und gesellschaftlichen Außenseitern. Über bald ein halbes Jahrhundert hinweg produzierte Rock einen akustischen Mehrwert gegenüber dem Alltag, der ins Unbeschriebene hineinführte: Get up, I feel like a Wunschmaschine.
Dämonen, Veitstänzer, Traumdoktoren
Grundlegend neu sind solche Erkenntnisse von Sängern, Songs und triebhafter Rede nicht – von Theweleit über Greil Marcus bis hin zum mikropolitischen Duo Deleuze/Guattari ist vieles darin verarbeitet, und gerade „Sound“ ist heute das Zauberwort aller Sorten von Musikexegeten –, aber so geduldig und liebevoll miteinander verwoben hat die brüchigen Fäden einer multikulturellen Erzählung bislang noch keiner. Büttner macht – auch hierin seinem Gegenstand folgend – den Exkurs zum Hauptstrang. Er geht in die Ethnologie, wo gelegentlich schon Forscher von Dämonen ergriffen wurden, berichtet von Veitstänzern, Traumdoktoren und Stromschnellen heidnischer Metaphysik. Er verfolgt das Geschehen zwischen Klang und Körper bis in die neuronalen Wurzeln hinein, wo Seele in Soma konvergiert. Bisweilen rennt er offene Türen ein – etwa in der nochmaligen Abrechnung mit Adornos Eurozentrismus –, tut dies aber so gründlich, daß andere sich in Zukunft Wege sparen können. In einem von Wolfgang Scherer, Schüler des Medientheoretikers Friedrich Kittler, inspirierten Kapitel revidiert er schließlich den Regressionsbegriff der Psychoanalyse: Wo diese über das Rinnsal Sprache alteuropäische Subjekte reformuliert, mobilisiert Rock das innere Afrika.
Dabei entspringt die sprichwörtliche „Fear of Music“ im Hause Freud und seiner Nachfolger einer eigentümlichen Verkennung. Rock 'n' Roll, das ist der erstaunlichste und weitreichendste Analysebefund des Rockgeschichtsschreibers Büttner, handelt nämlich in letzter Konsequenz gar nicht von Befreiung, er verspricht in seinem Soundflußbett bloß etwas, was er historisch nicht halten kann. Holly, Candy, Little Joe etwa, die Personnage aus Lou Reeds „Walk On The Wild Side“, bürgerliche Dropouts mit Hang zur Verausgabung – sie alle wollen auf die wilde Seite, doch keiner schafft es bis dahin, außer dem Chor schwarzer Frauen im Hintergrund, der aber nur „doob-doo- doob“ singen darf.
Trotzdem erzählt noch das höhnische, sprachlose Zitat fremder Intensitäten von einer Sehnsucht, deren Spurenelemente Organisationsform und Sound des Songs bestimmen – allerdings nicht auf „authentische“ Weise, wie der Zentralmythos des Rock es will. Rock ist ein hochkomplexes Narrativ, er erzählt Stories, deren Unterstrom an Bedeutung man nur mit geduldiger Analyse auf die Spur kommt – wie Träumen. Und: Rock reflektiert sich träumend selbst. Besonders in den journalistisch inspirierten Einzelanalysen von Songklassikern gelingt es Büttner, unter den Mythologisierungen und Sprachregelungen, die sich im Lauf der Zeit um den Entgrenzer Rock 'n' Roll herumgelagert haben, eben nicht „Natur“, sondern neue Formen der Durcharbeitung freizulegen – am dichtesten und treffendsten in der Analyse von Elvis' „Heartbreak Hotel“. Sänger und Sound künden von Übertretung und Rausch, doch „since my baby left me“ (und das ist lange her) muß selbst der King mit dem Hotel der einsamen Herzen vorlieb nehmen.
Die Entsorgung von Leidenschaft
Bereits hier, in der Urszene der Übersetzung von Blues ins Weiße, ist Rock ein ironisches Element beigemengt. Er weiß noch von seinen außereuropäischen Wurzeln, doch er weiß auch bereits um die falschen Versprechungen der Freizeitindustrie. Weshalb das „Heartbreak Hotel“ kein auf Dauer befreites Gebiet sein kann, sondern bloß der Ort, „wo Leidenschaft entsorgt wird“ (Büttner).
Immerhin: Rock ist ein gesellschaftlich geduldetes Ritual, ein heidnischer Karneval mitten im Kapitalismus. Genau deshalb aber eignet er sich wenig für antikapitalistische Strategien. Büttners Grundlagenforschung liest sich – ohne daß dies explizit würde – auch als Absage an eine Popkritik, die Sound „politisch“ auffaßt. Im Innern des Rocksongs sind keine Ziele – eine zyklische, rituelle Zeit kehrt wieder.
Weshalb Rock, ähnlich seinen Vorläufern, in einem ewigen Zwischenreich spielt: der Spanne, die der Samstag gibt, und die der darauffolgende Sonntag dem Leben wieder stehlen wird, bis der Adler am Freitag (on my mind) wieder fliegt.
Aber, monieren da die Nachgeborenen: Ist das nicht heute noch genauso? In Techno, Viva, Bum Bum Bum? Einmal mit der Kirche ums Dorf und back again? Etwas erstaunlicherweise mag Grandmaster B. das nicht gelten lassen – für ihn killte die digitale Welt den rituellen Star. Hören die Hörer heute am Ende, was sie wollen?
Vielleicht wollte Büttner aber auch nur sagen: Diese Art von Geschichten, diese gewissermaßen existentielle Deutung der Klang- und Wunschverhältnisse war nur in der Traumzeit der Lieder, im Rock 'n' Roll möglich. Und deshalb gilt für seine hingabevolle Theorieerzählung über akustische Erzählungen, frei nach Bob Dylan: In the jingle-jangle evening we'll come following you.
Jean-Martin Büttner: „Sänger, Songs und triebhafte Rede“. Verlag Stroemfeld/Nexus 1997. 675 Seiten, 68DM
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