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Der Blick über den Atlantik ersetzt keine Reformen

■ Nach den Krawallen in den Vorstädten wird nun auch in Frankreich über „null Toleranz“ und über New Yorker Rezepte diskutiert. Reine Repression ist aber auch in den USA nicht erfolgreich

Und wieder blickt man über den großen Teich – nach Lösungen und Eingebungen suchend. Dieses Mal von Frankreich aus, das bekanntlich ein eher distanziertes Verhältnis zu den USA pflegt. Doch angesichts der anhaltenden Straßenkämpfe zwischen Jugendlichen und Polizei in den Vorstädten von Paris, Lyon und Nantes empfahl nun auch die Tageszeitung Le Figaro New Yorker Rezepte: Omnipräsenz der Polizei und „null Toleranz“. Wenn man Harlem zurückerobern könne, dann müsse sich gleiches doch auch in den Banlieues der französischen Großstädte bewerkstelligen lassen. Die Empfehlung war kaum gedruckt, da gingen in der Nacht zum Dienstag in La Duchere, einem Vorort von Lyon, und in Creteil bei Paris zahlreiche Autos in Flammen auf, nachdem mehrere hundert Personen unter strenger Polizeibewachung an Schweigemärschen teilgenommen hatten. Aktionen der Wut und des Protestes, nachdem letzte Woche zwei junge Einwohner aus diesen „Problemvierteln“ erschossen worden waren – unter Umständen, die eher an Exekutionen als an polizeiliche Notwehr erinnern. Der Einwand liegt nahe, daß die französische Polizei momentan die denkbar schlechteste Wahl für eine solche „Rückeroberung“ ist, wollte man mehr als eine militärische Befriedung darunter verstehen.

Die Fixierung auf New Yorks vermeintliche Wandlung von der schmutzigen Verbrecherhochburg zur sauberen Wohnidylle dürfte niemandem helfen, auch nicht dem sozialistischen Bürgermeister von La Duchere, der in der Nacht zum Dienstag von seinen Bürgern ausgepfiffen wurde. Und schon gar nicht den Bewohnern dieser Banlieues, die zu großen Teilen aus dem Maghreb stammen.

Als im Mai 1992 ganze Straßenzüge in Los Angeles in Flammen aufgingen, weil ein Gericht vier weiße Polizisten freigesprochen hatten, die einen Schwarzen fast totgeschlagen hatten, predigte niemand „null Toleranz“. Statt dessen erfolgte die längst überfällige Ablösung eines offen rassistischen Polizeichefs und der Versuch, eine Polizei zu reformieren, die wie kaum eine andere in den USA von Korpsgeist und der Dominanz weißer Männer geprägt war. In Chicago, wo schon lange vor dem Null- Toleranz-Programm des ehemaligen New Yorker Polizeichefs Bratton eine tatsächliche Wiederbelebung von Teilen der Innenstadt eingesetzt hat, ist eine Koalition von Stadtteilgruppen, Kirchen, gemeinnützigen Organisationen, Privatwirtschaft und Stadtbehörden die treibende Kraft, nicht die Polizei mit einer Null-Toleranz-Strategie.

Auch die „Rückeroberung“ von Harlem hat weit mehr mit dem Engagement der Menschen zu tun, die dort leben – und dem Umstand, daß man in solchen Stadtteilen das Postulat der „null Toleranz“ in einem ganz anderen Kontext sehen muß. Die Schwarzen in Harlem wie in den meisten Armenvierteln der Großstädte haben in den letzten Jahrzehnten weniger unter den Übergriffen der Polizei gelitten als vielmehr unter dem Umstand, daß sie in den meisten Fällen gar nicht mehr kam, wenn man sie brauchte.

Von den Vereinigten Staaten zu lernen ist also gar nicht so einfach. Zumal die Integration von Minderheiten in das Los Angeles Police Department noch keineswegs vollzogen ist, die Armenghettos von Schwarzen in Chicago auch heute von jeglichen Revival-Plänen ausgenommen bleiben und vermutlich kein Bürgermeister mit seinem Amtskollegen in New York tauschen möchte. Interessanter als das Schlagwort „null Toleranz“ dürfte da die Studie des Harvard-Professors Julius Wilson sein, der den Niedergang der schwarzen Wohnviertel in Chicago beschrieben hat. Er wartet mit einer scheinbar banalen, aber derzeit recht unpopulären Schlußfolgerung auf: Die Schaffung von Arbeitsplätzen ersetzt zwar keine Polizeireform, aber sie spart viel Geld für Polizeieinsätze.

Andrea Böhm, Berlin

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