: Betr.: Fotograf Michael Meyborg in Kuba
Havanna, im September 1994: Innerhalb von zwei Wochen flohen rund 30.000 Kubaner über das Meer in Richtung USA. Einer der Orte, von denen aus die Flüchtlinge starteten, war das Fischerdorf Cochina. Tagsüber bauten sie am Strand Boote, ab fünf Uhr nachmittags, wenn Wind und Strömung günstig waren, stachen die Ausreisewilligen in See. Fotograf Michael Meyborg kam eine Woche nach der ersten Fluchtwelle an. Die Ereignisse auf Kuba spielten für die Presse in Europa zu diesem Zeitpunkt nur noch eine untergeordnete Rolle. Aber darum ging es Meyborg auch gar nicht: „Ich wollte sehen, was dort sonst noch passiert. Mir lag daran, die Stimmung der Zurückgebliebenen zu erleben.“ Die meisten Flüchtenden waren junge Männer, die ihre Angehörigen nachholen wollten, sobald sie es in den USA zu etwas gebracht haben. Am Ufer wurden Schlauchboote zu hochseetauglichen Kleinstschiffen umgerüstet, vereinzelte Gruppen von Männern bauten aus Holzplanken, Traktorreifen und alten Fässern Flöße. Etwas weiter hinten standen Einheimische, aber auch extra angereiste Neugierige und betrachteten interessiert die Szenerie. Auch die Polizei ließ sich blicken, griff aber nicht ein. Irgendwann entdeckte Meyborg inmitten der Schaulustigen die Frau mit den Lockenwicklern. „Wir haben zwar kein Wort miteinander gewechselt“, erzählt der Fotograf, „aber wir fanden das Treiben wohl beide merkwürdig. Zwischen ihr und mir gab es so etwas wie ein Einverständnis im Beobachten.“ So ist dieses Bild nicht nur das Porträt einer Unbekannten, es zeigt auch die Begegnung des professionellen Chronisten mit einer Ebenbürtigen. Die plötzliche Massenflucht war die erste, seit 1980 hunderttausend Menschen nach Miami übersetzten. Der überwiegende Teil der Kubaner stand ihr skeptisch gegenüber. In Sonntagspredigten kritisierten Geistliche, die Flüchtlinge würden sich bedenkenlos in Lebensgefahr begeben, bei Demonstrationen kam es zu spontanen Sympatiebekundungen für Reformer und Vertreter der Behörden gleichermaßen. Die Flucht brach nach 14 Tagen wieder ab. Es hatte sich herumgesprochen, daß die Versuche, das Festland zu erreichen, allzu oft in Havarien endeten und daß die US- Marine die in Seenot geratenen Flüchlinge zurückschickte. Manche ereilte ihr Schicksal kurz nach der Abreise. Ihre Außenborder waren so schwach, daß die Meeresströmung sie wieder ans Ufer trieb.
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