: Das Glück der Archivare
■ Pünktlich zu des Dichters 100. Geburtstag: Das Brecht-Archiv erstrahlt in neuem Glanz
Nun haben sie das helle Licht der neunziger Jahre doch noch angeknipst. Die neuen Halogenlampen lassen die Rauhfasertapete im Brecht-Archiv gleißend leuchten. Hätten sich die Brecht-Enthusiasten aus aller Welt ins unrenovierte Archiv verirrt, sie hätten auch einen schlechten Eindruck bekommen: „Die Möbel waren abgewetzt, die Böden bekleckert, in den Bodenbelägen waren Löcher“, beschreibt der Leiter des Archivs, Erdmut Wizisla, den Zustand des Hauses vor der Sanierung. Vor allem aber war da die altersschwache Alarmanlage: Eine sichere Verwahrung der Bestände war unter diesen Umständen nicht gewährleistet.
Seit das Archiv im ehemaligen Berliner Wohnhaus von Bertolt Brecht und Helene Weigel in der Chausseestraße 125 in Mitte 1978 eingeweiht wurde, waren kaum bauliche Veränderungen vorgenommen worden. Zwar wurden 1988 kühne Pläne für den Ausbau zu einem Brecht-Forschungszentrum geschmiedet. Großzügig hatte man alle notwendigen Gelder bewilligt. Doch dann durchkreuzte das plötzliche Ende der DDR das Vorhaben. In den folgenden Jahren lasteten Rückübertragungsansprüche auf dem Haus, nagte der Verfall weiter an der Bausubstanz. Eine Gerichtsentscheidung schuf endlich klare Verhältnisse. Das Gebäude wurde dem Land Berlin zugesprochen, das Anfang 1997 mit der Renovierung begann.
Die hier aufbewahrten Zeugnisse Bertolt Brechts sind als Schlüssel zu seinem Werk von unschätzbarem Wert. Als „Fanatiker der Notation“, so Brecht-Biograph Werner Mittenzwei, war er ständig darauf bedacht, jeden Gedanken zu Papier zu bringen und so – zur Freude der Archivare – über die Wirren des Exilantenlebens zu retten: „Weil Brecht wußte, daß sich seine Produktivität am besten in Gesprächen entfaltete, bei denen er von einem ins andere geriet, hielt er seine Schüler an, immer mitzuschreiben. Vor allem sollten sie Stenographie lernen, damit sie auch alles wortwörtlich protokollieren können.“
Nach Brechts Tod im August 1956 entschied Helene Weigel, daß sein Schüler Hans Joachim Bunge der richtige Mann sei, um den Nachlaß zu sichten und zu ordnen. Unter Bunges Leitung wurden in zwei Jahren rund 120.000 Blatt verzeichnet und auf Mikrofilm gebannt. Gleichzeitig plante Bunge die Veröffentlichung einer unglaubliche 400 bis 500 Bände umfassenden historisch-kritischen Werkausgabe. Wizisla, jetzt in Bunges Position, lächelt: „Für die damalige Zeit ein gewiß kühner Plan“, aber gemessen an den aktuellen Erfordernissen, erscheint ihm ein solches Konzept heute doch eher „überspannt“. Statt dessen verweist er auf die in enger Zusammenarbeit mit dem Brecht-Archiv zusammengestellte 30bändige Edition der Brechtschen Schriften. „Damit“, so Wizisla, „ist das Werk im wesentlichen publiziert.“
Während Bunge versuchte, der Hinterlassenschaft des Dichters durch Akribie Herr zu werden, haben 40 Jahre Forschung den Blick dafür geschärft, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Wizisla nennt ein Beispiel: „Band 5 enthält drei verschiedene Ausgaben des ,Galilei‘. Sie weichen so stark voneinander ab, daß man durchaus von eigenständigen Versionen sprechen kann. Im Archiv sind aber rund 30, meist nur mininal veränderte Texte des Galilei verzeichnet.“ Wollte ein Forscher allen Variationen nachspüren, sei das alte Buchformat als Publikationsform ohnehin nur schlecht geeignet, eher schon biete sich dafür der computerisierte Hypertext an. Abweichende Passagen könnten dann jeweils Zeile für Zeile verglichen werden, Erläuterungen wären mit einem Mausclick abrufbar.
All dies ist für Wizisla aber noch Zukunftsmusik, denn zunächst sind er und seine sieben MitarbeiterInnen vollauf mit dem Einräumen der ausgelagerten Bestände beschäftigt. Bis zum Januar, wenn das Archiv der Öffentlichkeit wieder zugänglich sein wird, müssen sich rund 200.000 Werkhandschriften, Tagebücher, Briefe, Urkunden, 20.000 Bücher und 110.000 Presseveröffentlichungen, Programmhefte und Fotos im richtigen Regal befinden. Betriebsamkeit herrscht natürlich auch angesichts des anstehenden 100. Geburtstags Brechts am 10. Februar. Vom 25. Januar bis zum 29. März plant der Träger des Brecht-Archivs, die Akademie der Künste, in ihren Räumen eine Reihe mit Filmvorführungen, Diskussionen und Lesungen. Eine das Programm begleitende Ausstellung, an der das Archiv als Hauptleihgeber beteiligt ist, möchte sowohl die bekannten Stationen seines Lebens dokumentieren, als auch den Versuch unternehmen, den literarischen Schaffensprozeß des Dichters transparent zu machen. „In eine lebendige Werkstatt“ möchte man sich begeben, schwärmt Wizisla. Die in der Ausstellung präsentierten Ideenskizzen, zum Beispiel Brechts Einstein-Fragment oder ein Stück zu Rosa Luxemburg, welche über die Entwurfsphase nicht hinauskamen, sollen in ebendieser Unabgeschlossenheit das Prozeßhafte seiner Arbeit gegen das Museale des Klassikers stellen, oder, wie Brecht es formulierte: „Wie lange / Dauern die Werke? So lange / Als bis sie fertig sind. / Solange sie nämlich Mühe machen / Verfallen sie nicht.“ Nils Michaelis
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen