Der Gärtner der Zukünfte

Gesichter der Großstadt: Eckard Minx leitet die Zukunftsforschung des Daimler-Benz-Konzerns. Sich täglich selbst zu desorientieren ist sein wichtigstes Arbeitsmittel  ■ Von Hannes Koch

Er will wissen, was andere wissen. Wer sich mit Eckard Minx unterhält, merkt plötzlich, was vielen Gesprächen fehlt: Ein Austausch, bei dem beide Partner Interesse an den Erfahrungen und Einschätzungen des anderen spüren lassen. Der Leiter der in Berlin ansässigen Zukunftsforschung des Daimler- Benz-Konzerns läßt den Interviewer nicht gehen, ohne ihm einige Fragen gestellt zu haben. Zum Beispiel: „Meinen Sie, daß die sozialen Spannungen demnächst zu mehr Gewalt führen werden?“

Seit 1992 leitet Eckard Minx, promovierter Volkswirt und Dozent der Freien Universität, die Daimler-Forschungsabteilung „Gesellschaft und Technik“, die in Moabit und dem kalifornischen Palo Alto rund 30 feste MitarbeiterInnen beschäftigt – mit Kontakten zu einem weltweiten Netzwerk von freien ForscherInnen. Sein Büro hat eine Glastüre – „Damit jeder sehen kann, was ich mache“ – und keinen Schreibtisch.

Etwas verloren anmutend, denkt der Chefforscher allein an einem ovalen Konferenztisch – immer Teil einer virtuellen Kommunikation. Auf der Arbeitsplatte steht ein Sandkasten von zehn mal zehn Zentimeter Größe mit einer kleinen Harke und ein paar Kieselsteinen. Minx fordert am Schluß jedes Treffens die Gesprächpartner auf, eine neue Miniaturlandschaft zu gestalten. Spaß, Anregung und Symbol: So oder so oder so kann die Entwicklung in die Zukunft verlaufen – von derselben Basis ausgehend.

Minx ist ein ernster und verspielter Charakter zugleich. Auch wenn er entspannt lacht, was oft vorkommt, bleibt die steile Denkerfalte auf seiner Stirn. Auf der Terrasse vor der Fensterfront seines Arbeitsraumes soll ein ähnlicher Sandkasten als begehbare Version entstehen. „Überhaupt werden Sie in diesem Zimmer wenig finden, was einen tieferen Sinn hat“, stapelt der Gärtner der Zukunft tief.

Zu tief: Steht doch in den vollgestopften Regalen auch der geheime Delta-Report, den die ForscherInnen jedes Jahr nur den oberen Daimler-Managern vorlegen und sonst niemandem. Da ist zu lesen, wie sich der strenggläubige Islam in Nordafrika in zehn Jahren vielleicht darstellen wird, welche Wasserquellen und Möglichkeiten zu ihrer Ausbeutung die Bevölkerung Zentralafrikas bald vorfindet und welche Chance auf einen Arbeitsplatz heutige Berliner Jugendliche haben, wenn sie 40 Jahre alt sind.

Der Delta-Report beschreibt die zukünftigen Rahmenbedingungen für den Konzern und den Verkauf seiner Produkte. Kann es sinnvoll sein, in Algerien irgendwann einmal eine Fabrik für Geländewagen zu bauen und haben die NordafrikanerInnen dann genug Geld, um sich die Wagen leisten zu können?

Um zu Ergebnissen zu kommen, muß Eckard Minx viele Fragen stellen. Dafür hat er viel Zeit. Eile scheint ihm ziemlich fremd zu sein. Lieber noch ein bißchen plaudern. Und er betont, selbst als Angestellter eines weltweit tätigen Auto- und Waffenkonzerns auch die nötige Freiheit zu haben. „Ich kann jede Frage stellen“, sagt er. Interessiert ihn und seine KollegInnen, ob es in einhundert Jahren überhaupt noch Konzerne wie Daimler-Benz geben wird? „Dieser Frage haben wir uns noch nicht gewidmet“, antwortet Minx. Weil die Antwort klar sei. Sie laute „Ja“. Die Marke „Daimler-Benz“ und mit ihr ein gewisser organisatorischer Zusammenhalt bleibe in jedem Fall erhalten. Unter anderem wegen der nötigen Identifikation der KonsumentInnen mit dem Produkt.

Rund 50 Prozent der Aufträge kommen vom Konzern selbst, die andere Hälfte von externen KundInnen. Viele Forschungsprojekte für neue Produkte sind langfristiger Natur. Mit den neuen Kleinwagen A-Klasse und Smart, die ab 1998 verkauft werden sollen, haben sich Eckard Minx und seine KollegInnen 1984 das erste Mal beschäftigt.

Die ForscherInnen stellten sich damals Fragen wie „Gibt es Ende der Jahrtausends einen Bedarf für Sparmobile?“ Die Prognostiker haben dann abgeschätzt, welche Käufergruppen in Frage kommen: Hausfrauen mit Zweitwagen, Teilzeitarbeiter mit einem Auto? Wie entwickeln sich die Fahrpreise im Schienenverkehr? Kann man in der Stadt überhaupt noch mit dem Auto mobil sein?

So werden Tausende von Variablen der gesellschaftlichen Entwicklung zu einem „Spektrum mehrerer möglicher Zukünfte“ verdichtet. Für den vor uns liegenden „Chancenraum“ ermitteln die ForscherInnen niemals nur eine Variante, sondern immer mehrere Optionen, die mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit eintreffen können. Für die idealtypische Frage von 1984 gibt es eine Bandbreite von Antworten: Niemand will Kleinstwagen, weil alle große Autos fahren. Niemand will Kleinstwagen, weil niemand mehr Auto fährt. Zehn Prozent der Bevölkerung würden Kleinstwagen kaufen und so weiter.

Welche Schlußfolgerungen die Firmenvorstände aus derlei Prognosen schließlich ziehen, bleibt ihnen überlassen. Für die tatsächliche Unternehmenspolitik will sich Minx nicht verantwortlich machen lassen – hat er doch nur beschrieben, was alles sein könnte. Vielleicht liegt darin ein Grund, warum er im Konzern so wenig aneckt. „Niemand sagt: ,Es ist Schwachsinn, was ihr macht‘“, berichtet Minx, der sich scherzhaft „68er“ nennt, weil er in diesem Jahr mit dem Ökonomiestudium begann. Nicht weil er sich als links betrachtet.

Trotz der vornehmlich wertfreien Herangehensweise meint er, mit seiner Arbeit die Zukunft in Grenzen gestalten zu können. Durch Empfehlungen, die sich an Zukunftsvisionen wie „Frieden, soziale Verträglichkeit und Nachhaltigkeit“ orientieren. Zum Glück für Minx erteilt Daimler ihm keine Aufträge für Kriegsproduktion.

Minx gibt zu, daß er sich manchmal verschätzt in bezug auf die Zukunft. „Vor vier Jahren hielt ich das Internet noch für eine vorübergehende Marotte“, gesteht er. Damit er nicht öfters danebenliegt, saugt er auf, was es an Ausprägungen der Realität zu finden gibt. Sein Geschäft ist es, sich täglich selbst zu desorientieren, den eigenen Blick in Frage zu stellen und Sichtweisen einzunehmen, die möglicherweise ebenso die Zukunft bestimmen könnten.

Von seiner 17jährigen Tochter, mit der er seit seiner Scheidung in einer Altbauwohnung in Friedenau lebt, läßt er sich in die Techno-Disco „Tresor“ mitnehmen. Eckard Minx will wissen, wie die zukünftigen KonsumentInnen leben werden und was sie kaufen könnten.