piwik no script img

Der keltische Tiger tanzt, der Kredithai dirigiert

■ Irlands Kaufrausch basiert bei den Armen nach wie vor auf Kredit. Vom Wirtschaftsboom profitieren vor allem die Reichen. Teil IV der taz-Serie über Konsumwünsche und -wirklichkeiten

Dublin (taz) – Annabel Byrne schleppt fünf große Plastiktüten ins Wohnzimmer. „Weihnachtseinkäufe“, stöhnt sie. „Ich bin fix und fertig.“ Seit zwei Wochen liegt Dublin im weihnachtlichen Konsumrausch, in der Innenstadt ist kein Durchkommen. Die Geschäfte haben auch an den Wochenenden bis nachts geöffnet, nie war es leichter, auf Kredit einzukaufen. Einige Warenhäuser offerieren 300 Pfund (etwa 780 Mark) Sofortkredit, in anderen Geschäften kann man das Kreditlimit auf der Kundenkarte selbst bestimmen. Tausend Pfund? Kein Problem.

Annabel ist vorsichtig geworden, was das Plastikgeld betrifft, seit sie vor neun Jahren vor einem Schuldenberg stand und zur Finanzberatung mußte. Ihr Mann Mike hatte seinen Job in der Druckerei verloren, sie selbst konnte nur halbtags in einem Friseurladen arbeiten, denn die drei Söhne gingen noch zur Schule. Seitdem haben sich die Byrnes aufgerappelt.

Das Haus im billigeren Norden der irischen Hauptstadt, das sie vor 15 Jahren für 8.000 Pfund gekauft haben, ist heute das Fünfzehnfache wert. Weil es fast abbezahlt war, konnten sie eine Hypothek aufnehmen. Mit dem Geld bauten sie das Eßzimmer in einen Friseursalon um, freitags und samstags kommt die Stammkundschaft zur Dauerwelle. Mike hat wieder einen Job als ungelernter Arbeiter in einer Druckerei gefunden.

„Überall ist die Rede vom Wirtschaftswunderland Irland“, sagt Annabel. „Uns gehe es besser als je zuvor, schreiben die Zeitungen. Aber wer stets wenig verdient hat, so wie wir, lebt immer noch von der Hand in den Mund.“ Zwar sind die Löhne und Gehälter in den vergangenen fünf Jahren durchschnittlich um ein Fünftel gestiegen, doch vom Boom profitieren vor allem die Besserverdienenden.

Aus dem einstigen Armenhaus Europas ist ein Konsumtempel geworden. Die Iren geben 66 Prozent mehr für Schmuck und 45 Prozent mehr für Spielzeug als vor zehn Jahren aus. Die Hauspreise sind allein in diesem Jahr um ein Viertel gestiegen, die irischen Niederlassungen von Mercedes, Jaguar und Porsche vermelden Rekordjahre. Die Zahl der Schönheitsoperationen hat sich in zwei Jahren verdreifacht, ebenso die Zahl der Fernreisen.

Die Byrnes waren im Sommer zwei Wochen auf Kreta. Das Geld kam, wie jedes Jahr, von der „Credit Union“, einer Co-Op-Bank für Kleinsparer mit niedrigen Zinsen. „Ich habe im Juni tausend Pfund geliehen“, sagt Annabel. „Jede Woche muß ich 20 Pfund zurückzahlen, dann kann ich mir im nächsten Juni wieder Geld borgen.“ Wenn nicht noch etwas schiefgeht. Als sie sich im September den Knöchel brach, konnte sie vier Wochen nicht arbeiten. Um den Kredit abzahlen zu können, mußte Mike bei der „Credit Union“ auf seinen Namen Geld leihen. Sollte er krank werden, würde es eng. Er bekommt keinen Lohn, wenn er nicht arbeitet, sondern muß Sozialhilfe beantragen: Seine Gewerkschaft hat sich das Recht auf Krankengeld abhandeln lassen.

Wer arbeitslos ist, dem leiht nicht mal die „Credit Union“ Geld. In den Dubliner Vororten wie Tallaght, wo die Arbeitslosigkeit bei 85 Prozent liegt, haben deshalb um die Weihnachtszeit vor allem illegale Kredithaie Hochkonjunktur. Sie nehmen bis zu 300 Prozent Zinsen, und sie sind die einzigen, die Sozialhilfeempfängern kurzfristig ein paar Pfund für Weihnachtsgeschenke und Truthahn borgen.

Ein Pint Guinness (gut ein halber Liter) kostet inzwischen über zwei Pfund, Mike trinkt jeden Abend drei bis vier, an Wochenenden auch schon mal acht davon. „Dafür gehe ich aber nie essen“, sagt er. „Höchstens mal Fish and Chips oder ein Chicken Curry vom China-Imbiß.“ Eine besser bezahlte Stelle ist schwer zu kriegen: An der Zahl der Arbeitslosen hat das Wirtschaftswunder kaum etwas geändert. Sicher, es gibt viele neue Jobs, aber fast alle setzen hohe Qualifikationen voraus.

Wie lange der Boom anhalten wird, ist ungewiß. Finanzminister Charlie McCreevy hat den oberen Einkommenschichten ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk gemacht, die Steuern gesenkt und die Staatsausgaben erhöht. Finanzexperten werfen ihm billigen Stimmenfang vor, der das Land teuer zu stehen kommen werde: Wenn er es nicht mal schaffe, in Zeiten eines beispiellosen Wirtschaftswachstums ohne Neuverschuldung auszukommen, dann werde er kein Geld haben, um es in Zeiten der Flaute in die Wirtschaft zu pumpen. Und die Flaute komme, so glauben viele, wenn Irland 1999 nicht mehr den Höchstbetrag aus dem EU-Strukturfond kassieren kann. Doch bis dahin tanzt der keltische Tiger noch. Ralf Sotscheck

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen