piwik no script img

Netter Tiger aus Madras

Viswanathan Anand, der ab heute gegen Karpow um den WM-Titel spielt, ist der Liebling der Schachwelt  ■ Aus Groningen Hartmut Metz

„Das kannst du jetzt nicht machen“, ermahnt eine Mutter ihren Sprößling. Doch schon hat Viswanathan Anand den flehenden Blick des Jungen entdeckt, läßt die ihn umschwirrende Fotografenmeute stehen, zerrt eilends einen Kugelschreiber aus seinem Jackett und setzt seinen Schriftzug auf das Partieformular des glücklichen kleinen Schachspielers. Der 28jährige Inder hat alles – und nicht nur, weil er als Brahmane in die tamilische Oberschicht hineingeboren wurde: Er sieht gut aus, ist eloquent, Junioren-Weltmeister 1987, indischer Sportler des Jahres 1995, Millionär, hat eine bezaubernde Gattin, Freunde und Bewunderer auf allen Teilen des Globusses, ja selbst unter den Schachprofis gibt es keinen, der „everybody's darling“ den Erfolg neidet. Letzteres ist besonders erwähnenswert, denn die Duelle auf den 64 Feldern ähneln Hahnenkämpfen, bei denen besteht, wer am lautesten kräht. Doch das ist nicht Anands Art, der seine pointierten Worte mit leiser Stimme setzt.

„Vishy“, wie der Inder wegen seines zungenbrecherischen Vornamens genannt wird, fehlt im Leben bisher nur eines: der Weltmeistertitel. Das soll sich spätestens am 9. Januar ändern. Ab heute trifft der Gewinner der K.o.-Ausscheidung im niederländischen Groningen auf den Champion des Weltverbandes Fide, Anatoli Karpow. Im Olympischen Museum in Lausanne mißt sich Anand in sechs Turnierpartien mit der russischen Schachlegende. Bei Gleichstand folgt wie im Herausforderer-Finale ein Tie-Break. Den entschied der „Schnelle Brüter“ aus Madras erst in der Blitzpartie mit 5:4 gegen den Engländer Michael Adams für sich.

Wem die Sympathien im WM- Duell gehören, steht außer Frage: 95 Prozent der Fans – unter den Großmeistern wird der Anteil noch höher liegen – drücken Vishy die Daumen. Allein in Indien bangen fast eine Milliarde Menschen mit ihrem Idol, das Schach bis auf den zweiten Rang in der Publikumsgunst gepuscht hat. Die Nationalsportarten Hockey und Tennis sind längst überflügelt, nur Cricket verfügt über höhere Popularitätswerte. Auf der Frontseite der zweitgrößten Tageszeitung des Subkontinents, der täglich von vier Millionen gelesenen Hindu, prangte am Mittwoch fast nur ein Thema: Anands Finaleinzug. In Indien wird jedes Fauchen des „Tigers von Madras“ verschlungen. Seit vier Jahren stellt Hindu seinen Sportredakteur Arvind Aaron nur dafür ab, daß dieser Anand zu allen Turnieren begleitet.

Aaron hat bereits 1995 in New York, als der erste indische Großmeister Garri Kasparow im Kampf um die PCA-Weltmeisterschaft (Kasparows eigener Verband nach seiner Abspaltung von der Fide) unterlag, davon geträumt, daß die Stunde des Triumphes kommen wird. Jetzt fühlt sie der Reporter nahen. „Seit 1991 hat Anand nicht mehr gegen Karpow verloren. Sein Score beträgt mittlerweile plus drei“, verweist Anands Wegbegleiter auf ein Übergewicht von drei Gewinnpartien. Gewohnt bescheiden dämpft der Nationalheld selbst die Erwartungen: „Im Gegensatz zu Karpow kann ich mich nicht mehr sonderlich vorbereiten. Trotz meiner 23 Partien, die ich in Groningen spielte, fühle ich mich aber gut und in Form.“

Mit einem mulmigen Gefühl dürfte hingegen der 46jährige Fide-Weltmeister, der sich selbst noch nicht auf dem „absteigenden Ast“ sieht, in das Match in der Schweiz gehen. Vor dem Herausforderer-Finale hatte sich Karpow Adams zum Gegner gewünscht und hinzugefügt: „Aber ich fürchte, daß ich auf Anand treffe.“ Schon vor Jahren zeigte sich der Sieger von 148 Turnieren und Zweikämpfen von seinem potentiellen Nachfolger beeindruckt: „Das Spiel Anands hat etwas Besonderes, Östliches, uns Unbegreifliches“, gesteht ausgerechnet einer der Vordenker der dominierenden russischen Schachschule.

Selbst wenn der als Dritter in der Weltrangliste einen Platz vor Karpow stehende Anand in den sechs Partien unterliegen sollte, darf er sich doch zumindest einen Erfolg ans Revers heften: Nach 25 Jahren leitete er eine neue Ära ein und beendete den Kleinkrieg der Exzentriker Bobby Fischer, Karpow und Kasparow, die sich gegenseitig mit Verwünschungen bedachten. Viswanathan Anand ersetzt die Haßtiraden durch Nettigkeiten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen