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Flucht vor der Idiotie des Landlebens

Rußlands Landwirtschaft stagniert. Hindernis für die Entwicklung eines selbständigen Bauerntums ist der Streit um Grundeigentum. Nun wird an einem Gesetz gebastelt, das Landerwerb ermöglicht  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Die erste Etappe ist abgeschlossen – wir haben überlebt!“ stellt der Redner zufrieden fest. Die Delegierten auf dem Kongreß des Verbandes der russischen Privatbauern (Akkor) spenden kräftigen Beifall. Nicht genug indes, um die Zweifel des Verbandschefs an ihrem Durchhaltewillen zu zerstreuen. Nachdrücklich fordert er die Mitstreiter auf, trotz aller Schwierigkeiten die Flinte noch nicht ins Korn zu werfen. 280.000 Bauern haben sich seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Rußland selbständig gemacht. Beim Nachbarn Litauen, dessen Gesamtfläche gerade mal dem Moskauer Verwaltungsgebiet entspricht, sind es bereits 160.000 Bauernwirtschaften. Hoffnungen, die Reformer und mutige Landwirte der ersten Stunde 1991 hegten, der Erfolg frei schaffender Bauern möge in Rußland Schule machen, haben sich nicht erfüllt. Der Andrang auf freie Bauernstellen blieb aus. Die Zahl der „Fermer“ stagniert seit Jahren.

Zu den ersten Pionieren gehörte Radiotechniker Nikolai Tugarin. Noch mit Ende Vierzig ließ er sich auf ein Wagnis ein. Zunächst waren es zehn Hektar, nach und nach pachtete er von Nachbarn und dem Gemeinderat weitere 13 Hektar hinzu. Sein Hof „Maria“ im Gebiet Kostroma im Norden Rußlands floriert. „Im Umkreis von 50 Kilometern gibt es keinen vergleichbaren Bauernhof“, sagt der Landwirt. Der Widerstand aus der Umgebung ist schwächer geworden. Wie zum Beweis setzt er nach: „Die Alkoholiker von der Kolchose bitten mich um Arbeit, weil sie ihren Betrieb bis auf die letzte Schraube ausgeplündert haben.“

Größeren Zuspruch fand die Idee indes im klimatisch begünstigten Süden des Landes, in den Grenzregionen des Kaukasus, wo großflächiger Getreideanbau Profit verspricht. Dennoch: Den kollektiv bewirtschafteten Kolchosen unterstehen nach wie vor 93 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche. Im Zuge der Privatisierung wurden sie zwar in Aktiengesellschaften der Mitarbeiter verwandelt, der Produktivität der Unternehmen hat das nichts genützt. Nur der Zuckerrüben- und Getreideanbau blieb im Vergleich zur sozialistischen Vorzeit stabil. Mittlerweile stammen 90 Prozent der Kartoffeln und drei Viertel des landesweiten Gemüsebedarfs aus Kleingärten und von den Datschagrundstücken städtischer Hobbygärtner.

Das russische Dorf gehörte nie zu den Hätschelkindern des Staates. Nach der brutalen Kollektivierung unter Stalin in den 30er Jahren, der Antidorfkampagne des Generalsekretärs der KPdSU, Nikita Chruschtschow, in den 60er Jahren, die den Landbewohnern auch noch das letzte Fünkchen bäuerlicher Eigenständigkeit und Selbstverantwortung austreiben wollte, befindet sich das russische Landleben nun endgültig am Rande des Kollapses. Selbst dort, wo die Sowjets die Industrialisierung des Dorfes betrieben, „ländliche Siedlungspunkte“ als eine Art Stadtdorfhybride gründeten, blieb das Lebensniveau erbärmlich.

Zehn Jahre alte Wohnhäuser verfügen immer noch nicht über fließendes Wasser. Die Notdurft erledigt die Landbevölkerung nachts bei klirrendem Frost zwischen windschiefen Planken auf vereisten Balken eines Naturklos. Die leninistische Gleichung – „Kommunismus ist gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung – brachte in den Dörfern bestenfalls eine 20-Watt-Birne zum Glimmen. Eine asphaltierte Hauptstraße erhielten nur solche Siedlungen, aus denen ein Sprößling den Sprung auf die Moskauer Politbühne schaffte. Jüngstes Beispiel: der Vorsitzende des russischen Oberhauses Igor Strojew und sein Geburtsort im Gebiet Orel.

Wer nicht in die Kriminalität absteigt oder dem weitverbreiteten Alkoholismus anheimfällt, entflieht der „Idotie des Landlebens“ in die Städte. Zurück bleiben Pensionäre, Alkoholiker und Menschen, denen der Antrieb fehlt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. 80 Prozent der Beschäftigten in der kollektiven Landwirtschaft gestehen ein, sie fühlten sich nicht verantwortlich für den von ihnen bestellten Boden. Ein verschlüsselter Hinweis auf den überkommenen Führungsstil der Vorsitzenden, einer Kaste neuzeitlicher Sklavenhalter.

Das Land hat die Ballungszentren an Kriminalität überrundet, so eine wissenschaftliche Studie. Wie vor einem Jahrhundert erschreckt die seelische Verarmung der Landbevölkerung fast mehr als die materielle Not. Zwei mächtigen Kräften fiel sie zum Opfer: der Gleichgültigkeit der reformfreundlichen politischen Führung in Moskau und der alten kommunistisch orientierten Agrarelite in den Provinzen, die nach planwirtschaftlicher Gepflogenheit den Ernteeinsatz als martialisches Ringen mit der Natur inszeniert. Was am Ende eingefahren wird, befriedigt die fiktive Buchhaltung, weniger den Verbraucher, der in dieser Gleichung nur als eine Unbekannte rangiert. Schließlich gilt es, Subventionen an Land zu ziehen. Diese Technik beherrschen die Altvorderen vortrefflich.

Nur in seltenen Fällen fließen die Gelder in die Rationalisierung. Als Beleg mag gelten, daß die Millionenstädte Moskau und St. Petersburg zu 75 Prozent mit Lebensmitteln aus dem Ausland versorgt werden, im landesweiten Schnitt machen die Importe 50 Prozent aus. Dagegen werden noch immer etwa ein Fünftel aller Arbeitskräfte auf den Lohnlisten der Landwirtschaft geführt. (Westeuropa 3 Prozent). Die Armut auf dem Lande sichert den alten Herren die Gefolgschaft der Untergebenen: „Ungleichheit erregt die Landbewohner mehr als allgemeine Armut“, stellten Wissenschaftler fest.

Das Land ist die letzte Bastion der Kommunisten, die seit sechs Jahren daher bewußt die Privatisierung von Grund und Boden verhindern. 1991 erließ Präsident Jelzin ein Dekret, in dem Staatsbetriebe verpflichtet wurden, zehn Prozent ihrer Nutzfläche unabhängigen Bauern zur Verfügung stellen – jenen 280.000 Wirtschaften, die sich im Akkor organisiert haben. Doch damit erlahmte die Initiative der Reformer. Nicht zuletzt weil finanzielle Mittel fehlten.

Aber auch die Bauern leiden an chronischer Unterkapitalisierung. Haupthindernis: Die Banken vergeben keine Kredite. Im Unterschied zu westlichen Volkswirtschaften können russische Bauern auf Haus und Grundstück keine Hypotheken aufnehmen. Der Boden gehört dem Staat und untersteht seinen Agenturen in der Provinz. Außer einem kleinen Stückchen Ackerfläche, die sich in Privateigentum befindet, tritt der Landwirt als Pächter auf. Große Investitionen wollen daher wohl überlegt sein. Denn Mißernte oder persönliches Mißgeschick reichen der neidischen Agrarnomenklatura oftmals schon aus, um den Bauern die Pacht zu kündigen.

Erfolgreiche Fermer, deren Kinder den Hof nicht fortführen wollen, können das Anwesen auch nicht verkaufen. Sie bleiben von der Willkür unzähliger Bürokraten abhängig. Grund und Boden sind vom Markt ausgenommen, was potentielle Anleger davon abhält zu investieren.

Eine Schlichtungskommission aus Vertretern der Opposition und Regierung soll sich im Auftrage Jelzins im Laufe der nächsten drei Monate um die Erarbeitung eines Grund-und-Boden-Gesetzes bemühen. Der Präsident gab die Richtung vor: im Einklang mit Verfassung und bürgerlichem Gesetzbuch muß der freie Landerwerb möglich sein. Doch behält sich der Staat Kontrolle über die Entäußerung vor, um zu verhindern, daß sich Rußlands neue Reiche und Ausländer die besten Böden unter den Nagel reißen ...

Seit der Bauernbefreiung im Jahre 1861 zieht sich der Streit um Grundeigentum durch die russische Leidensgeschichte. Die Anwälte der Kollektivwirtschaft berufen unterdessen das Landvolk zum Kronzeugen, da es sich auch gegen den Handel mit der „Mutter Natur“ sträube.

Allerdings befinden sich die Landarbeiter in quasifeudaler Abhängigkeit, während die heutigen Grundherren ihren patrimonialen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. „Bis zu einer Lösung“, sagt Akkor-Funktionär Petschalin, „ist es noch ein sehr anstrengender Weg“. Und fügt hinzu: „Womöglich klärt sich die Frage auch erst biologisch ...“

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