"Schlechtes Theater"

■ Pfarrer Heiner Süselbeck über seine Arbeit als Touristenseelsorger auf Mallorca

taz: Stichwort Ballermann6: Herr Süselbeck, waren Sie im Kino?

Heiner Süselbeck: Ich wollte mir den Film ansehen, aber dann habe ich mir gedacht: Tu es dir nicht an! Wenn man das alles sechs Jahre lang erlebt und gesehen und die Menschen begleitet hat, die dort irgendwelchen Riten und Strategien auf den Leim gegangen sind und eigentlich Opfer wurden – sie sind Opfer für mich –, und wenn man dann mit ihnen in Ruhe geredet hat und sie Realitätsgewinn vollziehen konnten, dann finde ich es eine Beleidigung der Menschenwürde, einen Film zu drehen, der einfach nur diese Oberfläche, dieses Opfer ablichtet.

Welche Erfahrungen haben Sie denn auf der deutschen Kampftrinkermeile gemacht?

Wenn Sie lange genug dran kratzen, dann kommt bei jedem das Gotteskind heraus. Sie wissen ja, es ist schlechtes Theater, was dort gespielt wird.

Und der Alltag?

Wir hatten es mit den schwersten Fällen zu tun, also mit denen, die in dieser Orgie dann durchgeknallt sind. Leute, die ihre Gruppe nicht mehr gefunden haben oder ihre Papiere verloren hatten, solche, die hilflos aufgefunden wurden oder schon so weit im Alkoholismus fortgeschritten waren, daß sie in die Psychiatrie mußten. Im Monat hatten wir bis zu drei Rückführungen von Leuten, die mit völlig irren Illusionen nach Mallorca gekommen sind und dann absolut mittellos waren. Wir haben ihnen den Rückflug organisiert, damit sie wenigstens Sozialhilfe beantragen konnten. Die Kirchengemeinden hatten einen Rückkehrerfonds eingerichtet. Ich habe bei Trauungen immer zu Spenden aufgerufen. Dadurch wurde der Fonds ganz gut gefüllt. Manchmal haben wir sogar für Leute Hosen gekauft, weil die Fluggesellschaften sie so, wie sie angezogen waren, nicht mitgenommen haben.

Waren Sie auf diese Aufgabe vorbereitet?

Wenn Sie mir damals erzählt hätten, daß es so etwas gibt, dann hätte ich es nicht geglaubt. Der Chef der Europaabteilung der EKD hat mich allerdings am Telefon anderthalb Stunden lang vorbereitet. Da hat mich die Aufgabe gereizt. Denn ich verstehe die Arbeit auf Mallorca als Industriepfarramt unter anderen Vorzeichen.

Was verstehen Sie unter Industriepfarramt?

Die Industriegesellschaft kennt Produktionsprozesse, in denen Menschen zu Objekten werden. Man muß sich in der Arbeitswelt verdingen und funktioniert nur als Objekt. Aber dahinter steckt ja ein Mensch und nicht nur eine manipulierbare Arbeitskraft. Meine Aufgabe als Pastor ist es, die Subjektivität des Menschen zu schützen. Dasselbe gilt für die Freizeit. Wenn die Kirche heute ihren Auftrag wahrnehmen will, dann muß sie auch in der Freizeit darauf achten, daß die Menschen nicht nur ausgebeutete Objekte sind.

Touristische Vordenker wie der Schweizer Professor Jost Krippendorf haben längst das Ende der Industriegesellschaft vor Augen und meinen, daß immer mehr Menschen unseres Kulturkreises eine ganz starke Sehnsucht nach Sinn und neuen Werten haben.

Es ist sicherlich so, daß wir mehr Freizeit haben und daß die Chancen, Subjektivität zu gewinnen und auszuleben, gestiegen sind. Man muß nicht mehr die ganzen doofen Arbeiten machen, man kann heutzutage intelligent arbeiten und sogar von Mallorca aus, beispielsweise als technischer Zeichner, seine Arbeiten nach Deutschland faxen. Im Urlaub, so meine Erfahrung, machen sich die meisten Menschen diese ganzen Dinge nicht bewußt. Es gibt eine Sehnsucht nach authentischem Leben. Das bedeutet, daß man eigentlich nur noch im Urlaub lebt. Unter den Bedingungen zu Hause – den ökologischen, sozialen und den Arbeitsbedingungen –, da ist man eigentlich kein richtiger Mensch mehr, die richtige Lebenszeit ist die Urlaubszeit. Viele Paare wollten auf Mallorca heiraten, weil für sie das richtige Leben das Leben unter dem Dom des Südens war, da, wo sie es schön finden, unter der Sonne, wo das Meer blau ist. Diese Einstellung ist gefährlich, weil sie letzten Endes dazu führt, daß man die realen Lebenswelten vertauscht mit einer gekauften Traumwelt. Und deswegen war mein Auftrag Realitätsgewinn.

Und wie ging das vor sich?

Mit den Leuten darüber reden, wenn der Urlaub nun eine Belastung wurde. Beispielsweise wegen der Partnerschaft. Wenn ich nämlich losfahre und meine, in der einen Woche muß es richtig fluppen, dann kann es auch auseinandergehen. Dann waren wir Gesprächspartner, die ihnen klarmachten, daß sie vielleicht irgendwelchen Illusionen aufgesessen sind. Genauso bei den älteren Menschen, die sich quasi ins Flugzeug reintragen lassen, weil sie denken: Mallorca ist ein Jungbrunnen, und dann geht es mir wieder richtig gut. Und schwuppdiwupp landen sie doch im Krankenhaus, auch auf Mallorca.

Die Reiseveranstalter müßten Ihnen für Ihre Arbeit sehr verbunden sein.

Ich war eigentlich gespalten. Denn sechs Millionen Leute entscheiden sich nicht einfach frei, auf diese Weise ihren Urlaub zu verbringen. Dahinter steckt Kanalisierung, dahinter stecken Strategien. Die habe ich abgelehnt, aus ökologischen und sozialen Gründen. Wenn alle Chinesen so Urlaub machen wollten wie wir, dann könnten wir unsere Erde vergessen. Aber ich will TUI oder Neckermann nicht diskreditieren, denn die Zusammenarbeit war wirklich gut und vertrauensvoll, wenn es um die Rücktransporte ging. Wir hatten ein Agreement über kostengünstige Rückflüge.

Auf Mallorca leben an die hunderttausend Deutsche. Frisöre, Journalisten, Bierkönige, ReiseleiterInnen. Hatten Sie Kontakt zur arbeitenden Klasse?

In erster Linie hatten wir, meine Frau und ich, Kontakt mit geschiedenen Frauen, die hier neu anfangen wollten. Einerseits eine gute Sache. Die Depressionen und das ganze Trara, das die Scheidung für sie bedeutet hat, das haben sie überwunden, indem sie mit ihrem bißchen Geld und Selbstbewußtsein in den Süden gegangen sind, um neu anzufangen. Wenn sie qualifizierte Berufe hatten, die gebraucht wurden, dann war es o.k. Andere sind dabei auf die Nase gefallen. Es gibt dieses berühmte Beispiel: Ich kann Salat machen und Hähnchen braten, und dann kriege ich schon irgendwie einen Job. Diese Frauen geraten in Mühlen, die vielleicht noch ausbeuterischer sind als in Deutschland. Das habe ich auch kennengelernt. Eine Frau ist über die Wiesen gelaufen und hat aus Hunger Löwenzahn gesammelt.

Und die vielen reichen Deutschen auf Mallorca?

Mit denen habe ich weniger zu tun gehabt. Das liegt sicher auch an meiner Dienstauffassung. Ich habe mich nämlich mehr um die Leute gekümmert, die soziale Schwierigkeiten hatten, und habe auch nie großes Interesse gehabt, mit Honoratioren in Kontakt zu kommen, um sie für die Gemeinde zu gewinnen. Da war ich von Haus aus einfach zu stolz. Jeder, der reich ist, weiß auch, daß es die Kirche gibt.

Keine reichen Gönner?

Nö, war nicht.

Sie haben sich über eines der liebsten Reichenspielzeuge, das Golfspiel, kritisch geäußert.

Es läuft in der Ökumene das Programm: Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Da war ich sensibilisiert für ökologische Fragen. Und ich war Mitglied des GOB (Grup d'Ornitologia i Defensa de la Naturalesa). Die Umweltschützer hatten eindeutige Zahlen auf dem Tisch liegen: Brunnen, die im Gebirge früher 120 Meter über dem Meeresspiegel lagen, waren jetzt auf 40 Meter unter dem Meeresspiegel abgesunken. Mir wurde klar, daß die Insel unter dem industriellen Tourismus ökologisch in die Knie geht. Es ist ein Witz, wenn man sagt, es wird Brauchwasser eingesetzt, um die Golfplätze zu bewässern. Soviel gebrauchtes Wasser gibt es gar nicht. Gegen sieben oder acht Golfplätze sagt ja keiner was – wenn es 20 sein müssen, die 60 Millionen Liter Wasser am Tag brauchen und damit soviel wie die ganze Stadt Palma bei dem schon herrschenden Wassermangel, da muß man dann auch mal seine Stimme erheben und sagen: Wie kann man Freizeitgestaltung entwickeln, die nicht auf Kosten der Schöpfung geht? Zumal viele katholische Priester in den Gemeinden selber die Dinge kritisch sehen.

Allerdings hört man jetzt immer häufiger, daß Massentourismus nützlich sei als weltweite Naturschutzagentur, weil aus touristischen Einnahmen Schutzgebiete finanziert werden. Er soll auch Einheimische schützen, weil er die Touristen kanalisiert und in Gettos verfrachte...

...Massentourismus ist sozusagen noch das Gespenst der alten Makroentwicklung von Entwicklungshilfe. Das hat sich totgelaufen. Es ist besser, in kleinen Einheiten zu fördern. Bei uns läuft diese Debatte unter „small is beautiful“. Also weich, sanft und klein, damit die Leute etwas davon haben. Ein großes Hotel bringt den Leuten nicht viel. Großtourismus befördert die Ungleicheit unter den Menschen. Das läßt auch der Bischof von Mallorca verlauten. Die Synode der Diözese hat jetzt ein Dokument veröffentlicht, in dem steht, daß Mallorca vor allem durch Tourismus in eine kapitalistische wirtschaftliche Aktivität eingetaucht sei, die das Inselleben auf bestimmte Weise präge, nämlich Unternehmen und Arbeitende von den Besuchern abhängig mache. Wir müssen aber eine gleichberechtigte Entwicklung schaffen.

Ist die kritische Bewegung auf Mallorca stark?

Merkwürdigerweise nicht. Obwohl auf vielen Inseln Touristen von der Bevölkerung von vornherein kritisch gesehen werden. Man muß wohl ganz brutal sagen, daß die Eliten korrupt sind. Jetzt fängt es im Untergrund an. Ich höre manchmal von Bürgermeistern, die sich politisch profilieren, indem sie sagen: Wir wollen nicht, daß unser Ort überfremdet wird. Wenn in einem Ort meinetwegen 2.000 Spanier leben, zu denen noch 800 Deutsche mit politischem Wahlrecht hinzukommen, und die wählen dann anders, als es bisher üblich war, dann entsteht die Tendenz zu Abgrenzung. Aber ich sehe keine Chance als die Integration. Für mich ist Mallorca der Ernstfall des neuen Europa. Es kann auch funktionieren, wenn die Entwicklung sozial und ökologisch sensibel begleitet wird.

Wie haben Sie sich denn selbst im Urlaubsparadies erholt? Haben Sie es denn auch genossen?

Ich habe mich schon privilegiert gefühlt in meiner Arbeitssituation. Ich bin von Mai bis September jeden Morgen eine halbe Stunde im Meer geschwommen. Wer hat das schon? Interview: Christel Burghoff