Wie Lebensästheten so drauf sind

■ Ein Buch und Bemerkungen zur Soziologie des Zurandekommens auf dem eigenen Teller

Neulich rief mich Friedhelm Böpple an. Er ist Co-Autor des Buches „Generation XTC“. Ab und an veranstaltet Böpple auch Parties und fragte, ob ich Lust hätte, bei dem von ihm organisierten Event „hybrid exposures“ die zwei jungen Trendforscher Johannes Goebel und Christoph Clermont zu moderieren, die sich in ihrem Buch „Tugend der Orientierungslosigkeit“ (Volk und Welt) um die Generation der „89er“ gekümmert hatten. Natürlich sagte ich zu; wegen des Geldes (300 Mark) und weil auch Oskar Sala, Lydia Kavina, DJ Jonzon, Ecstasy-Vertoner Hans Cousto und der geniale Experimental- und Drogenfilmer David Larcher auftreten sollten. Moderator im technoiden Ambiente! Lustig auch der Veranstaltungsort. Das Quartier 206 in der Berliner Friedrichstraße steht halb leer, und im Erdgeschoß kosten Feuerzeuge 1.000 Mark und Frauenkleider 11.000 Mark. Das Haus gehört der Fundus-Gruppe, die gerade dabei ist, die Betreiber des Tacheles rauszuklagen, wobei noch erwähnt werden sollte, daß die Getränkepreise in Berlins Vorzeigealternativobjekt ziemlich unverschämt daherkommen.

Goebel, Jahrgang 1968, ist als Publizist, Werbetexter und Trendforscher tätig. Clermont, Jahrgang 1970, war mal Softwareentwickler, Graphiker und Fotograf und gründete 1992 die Werbe- und Trendagentur New Sign. 1997 gründeten beide die New Sign Werteagentur, die sich „intensiv mit den Lebens- und Wertewelten der 18- bis 35jährigen“ beschäftigt, „Wertelinks auf Mikro-Ebene“ analysiert, „die Grundlagen für plausible Kampagnen“ liefert und Unternehmen erklärt, wie ihre Zielgruppen so drauf sind.

In ihrem in drei Wochen zusammengeklickten Buch geht es um die Generation der „89er“. Auch der Ullstein-Verlag präsentierte vor vier Jahren die „89er“. Die Autoren der „Selbstbewußten Nation“, die am Lagerfeuer um den „Bocksgesang“ tanzte, waren allerdings eher reaktionär bis faschistisch gesonnen, während Clermonts und Goebels 89er zwar auch sehr selbstbewußt sind, doch zeitgemäßer als „Lebensästheten“ daherkommen, die Tag für Tag in den Supermarkt eilen, um sich dort aus dem „Warenkorb der Identitäten“ zu bedienen. „Jenseits der gängigen Stereotype“ und stets risikobereit, fern der gängigen DGB-/SPD- Arbeitslebensbiographien, wursteln sie sich durch x verschiedene Jobs und erfinden sich ständig neu.

Die „Lebensästheten“ sind in antiautoritären Elternhäusern aufgewachsen, haben „Abbetur“ (Helge Schneider), studieren oder brechen ihr Studium ab, leben als Single, sind antiideologisch, stets motiviert und gern auch kindlich, stilisieren sich zum „bedeutsamen Projekt“. Schlechtgelaunt könnte man einwenden, daß es Clermont/Goebel ausschließlich um konsumfreudige „Jugendliche“ aus wohlbetuchten Mittelklasseelternhäusern gehen würde, denen alles zur Ware wird; daß es in ihrem Buch niemanden gibt, der nicht als werbetechnische Zielgruppe taugen würde, daß es bei ihnen weder Klassen noch Geschlechter, weder Ost noch West gibt, daß niemand Drogen nimmt oder Musik hört oder als arbeitsloser Alkoholiker in Depressionen fällt.

Auf der anderen Seite stimmt sicher vieles. So irgendwie wie der „Marienhof“.

Darüber hinaus ist das Buch „Tugend der Orientierungslosigkeit“ aber auch genial: Werbetexter schreiben eine Werbeclip-Soziologie, die sich als Werbeprospekt der eigenen Werbeagentur an potentielle Kunden wendet.

Ihre Werbeclipsoziologie ist gleichzeitig Autobiographie der Autoren, die sich zu Musterrepräsentanten der von ihnen erfundenen und zu bewerbenden Generation erklären. In seinen vielfältigen Selbstbespiegelungen entwirft das Buch ein irgendwie anrührendes Wunschbild der Autoren von sich. Sie sind mild und nett, irgendwie auch schüchtern – die muß man mögen. Die Grußadresse, die die beiden an Ulrich Beck sandten, kam postwendend zurück, auf einer ganzen Seite in der Süddeutschen.

Zurück zu dem eigentlich sehr gelungenen Event im Quartier 206. Der geniale David Larcher trat leider nicht auf, weil er grad betrunken war, Alfred Biolek hatte sich kurz gezeigt. Lustig sah es aus, als die netten Autoren neben Hans Cousto, dem Timothy Leary von Berlin, standen, dem 30 Jahre Ekstase und eine durchgemachte Nacht durchaus im strahlenden Gesicht standen. Die sogenannte Diskussion mit den beiden, die ihr Buch auswendig hersagen konnten und provokativ mal ins Publikum fragten, ob denn jemand hier seine Freunde verlieren würde, wenn er kein Geld mehr hätte, war so mißlungen wie fetzig gewesen. Irgendwann meinten sie, über Drogen wollten sie nicht reden, das hätte ja schon der Friedhelm Böpple gemacht. Irgendwann meinte Böpple, zwar fände er das meiste falsch, doch müsse man ihnen ja zugute halten, daß sie an das glaubten, was sie schrieben. Auf einen kritischen Einwand, den ich mir notiert hatte, konterten sie, ich sei doch sowieso eher ein 78er, der sich sein ganzes Leben mit den 68ern hatte abplagen müssen. Das traf mich sehr. Ich ein 78er, sozusagen alter Sack! Frechheit!! Obgleich ... 78 war schon hart. Da flog Deutschland im Fernsehen im Viertelfinale aus der Fußball-WM raus gegen Österreich, obwohl gleich drei Schalker Spieler im deutschen Team standen: Klaus Fischer, Rüdiger Abramczik und Rolf Rüßmann. Das hatte mich sehr geprägt und verunsichert. Detlef Kuhlbrodt