„Titanic“ – vom Erfolg eines Untergangs

Rette sich, wer kann: James Camerons „Titanic“ ist eine Schnulze, die sich nach rund zwei Stunden endlich zum Katastrophenfilm mausert. Bis dahin vertreibt einem der Regisseur die Zeit mit kleinen professionellen Tricks und großem technischem Aufwand  ■ Von Stefan Heidenreich

Seit die Titanic auf ihrem Weg nach Amerika unterging, kommt sie dort immer wieder gut an. Es ist ein bekannter Widerspruch der Geschichte, daß sich der Schiffbruch besser speichert als der Erfolg. James Cameron, Regisseur und Drehbuchautor des neuesten Titanic-Films, hat mit den Paradoxa historischer Wahrnehmung Erfahrung. Seine Terminator- story etwa versuchte ein Ereignis der Vergangenheit so zu verändern, daß die Gegenwart erst gar nicht zustande kommt. Ein unmögliches, aber durchaus filmtaugliches Vorhaben.

Nach derselben Logik wäre das Ende des Films „Titanic“ die Ankunft des Schiffes in New York gewesen. Leider verzichtet der Film auf Überraschungen dieser Art. Vielleicht auch deshalb, weil das Schiff, in dessen Bauch die Kamera zu Beginn des Films kriecht, nicht gehoben werden kann. Trotz des beeindruckenden technischen Aufwands, den die professionellen Titanic-Schatzsucher, die er begleitete, in sagenhaften 3.800 Metern Tiefe betrieben.

Cameron überschreitet die historischen Fakten nur, um sie als Hintergrund für eine äußerst flache Liebesgeschichte zu mißbrauchen. Mit deren Handlung muß man sich nicht lange aufhalten. Sie ist genauso gnadenlos absehbar wie der Untergang des Schiffs. Das Liebesdrama an Bord startet mit einer fiktiven Korrektur der Passagierliste. Der junge Held Jack Dawson (Leonardo di Caprio) gewinnt sein 3.-Klasse-Ticket beim Pokerspielen am Hafen. Er kommt aus Triple Falls, Wisconsin. Seine Zeit in Europa hat er sich damit vertrieben, dilettantische Kohlezeichnungen anzufertigen. An Bord wird er damit als begnadeter Künstler durchgehen.

Eingeschifft hat sich auch Rose Duwitt Bukater (Kate Winslet). Sie soll sich zur Lösung familiärer Geldprobleme in Philadelphia mit dem Mitreisenden Cal Hockley (Billy Zane) vermählen. Trotzdem sich die Ereignisse ziemlich genau so entwickeln, wie es diese Dreieckskonstellation vorgibt, langweilt man sich in den zwei Stunden bis zur Katastrophe kaum.

Geschickt vertreibt James Cameron dem Zuschauer die Zeit mit vielen kleinen professionellen Tricks und großem technischen Aufwand. „Ich setze gern knallharte technologische Mittel ein, um Emotionen zu erzeugen“, bekennt der Regisseur. Aber im Gegensatz zu der herausragenden technischen Realisation geraten die Emotionen zur Standardware. Wer perfekt kalkulierte Beleuchtungseffekte für Gefühl hält, kommt allerdings auf seine Kosten. Der Ozean im Blaulicht schmeichelt selbst noch den Masken der erfrorenen Schiffbrüchigen. Die schmachtenden Blicke von Kate Winslet sind effektvoll mit Highlights verzaubert, und zur finalen Kußszene malen die Computer einen Sonnenuntergang, der eine geradezu sagenhafte Verschmutzung der Erdatmosphäre vermuten läßt.

Wenn technisch alles in bester Ordnung ist, liegt das nicht zuletzt daran, daß der Modellbau über die Computeranimationen Oberhand gewann. Allein 40 Millionen Dollar sind in das Schiff geflossen, das von billigen Arbeitskräften im mexikanischen Teil Kaliforniens gebaut wurde. Mit 238 Meter Länge erreicht es fast die originalen 269 Meter. Die Rückseite des Modells wurde dabei nicht vollständig aufgebaut. Cameron ließ alle Außenszenen von einer Seite aus aufnehmen und bei Bedarf spiegelverkehrt kopieren. Die Illusionen funktionieren perfekt, nur der computergenerierte Eisberg sieht aus der Ferne aus wie zerknülltes Butterbrotpapier.

Der technische Aufwand hat seinen Preis. Das Budget des Films erhöhte sich von geplanten 130 auf über 200 Millionen Dollar. Wer in diesen Summen wirtschaftet, hat zumindest eine Entscheidung schon gefällt. Das Endprodukt muß ein finanzieller Erfolg werden, und alles wird auf dieses Ziel hin optimiert. James Cameron spricht von zwei möglichen Reaktionen auf den Film. Entweder „wird der Film bei allen in jeder Hinsicht gut ankommen“, oder „jeder wird etwas daran auszusetzen haben. Nicht genug Action für Action-fans, nicht genug Liebesszenen für die Romantiker – ein Cheeseburger mit Schokoguß.“ Die Alternative ist falsch gestellt. Gerade weil der Film allen gefallen muß, ist er ein großes Käse-Schokoladen-Brot geworden. Die Rechnung von Paramount und 20th Century Fox, die den Film finanziert haben, scheint aufzugehen. In den USA hält „Titanic“ seit drei Wochen Platz eins der Zuschauerzahlen. In 17 Tagen wurden 156,4 Millionen Dollar eingespielt. Ab 500 Millionen können die Produzenten richtig zufrieden sein. Zum finanziellen Erfolg kommen acht Golden-Globe-Nominierungen. Die gute Ausbeute bei der Oscar-Vergabe ist absehbar.

Vielleicht sind diese Erfolge weniger überraschend, als es die Filmkonzerne darstellen. Das Publikum und die Preisverleiher scheinen kalkulierbar zu sein. Viel befremdlicher als der Erfolg des Films sind die Mittel, mit denen er zustande kommt. In fast schon widerlichen Kapriolen bemüht sich das Drehbuch, jedem Zuschauer sein Extrabonbon zuzuwerfen: Ein Kerl aus Wisconsin für das ländliche Amerika; stramme Jungs beim Kohleschaufeln und ein nackter Busen für die Lustquote; ein Witz über den titanischen Phallus für die Frauen. Ein Priester für Gläubige; Picassos und Monets für die Kulturbeflissenen; ein ordentlich gedeckter Tisch und gute Manieren für die Siebecks. Kräftig Rotz hochziehen und weit spucken für den Rest.

Derart rundum bedient, wird das Publikum vom Untergang der Titanic ereilt. Mit vielen kleinen Extraeinlagen, Schießereien, Prügeleien, Geschrei und Gejammer geht's dem furiosen Ende entgegen. Die Schiffbrüchigen tauschen noch obligatorische Benimmregeln aus, „I never let you go“, „Make lots of babies“ und so weiter. Die Erfrorenen schließlich sind so gütig blau angestrahlt, daß man unwillkürlich versöhnt ist mit einer Katastrophe, die so wunderschön aussieht. Beschaulich könnte der Film zu Ende gehen, müßte er nicht noch die Rahmenhandlung abschließen, mit der er so vielversprechend begonnen hat.

Novellenartig hat bis dahin die gealterte Rose Bukater (Frances Fisher) der Schatzsucher-Crew ihre unsägliche Liebesgeschichte erzählt. James Cameron selbst hat mit Mini-U-Booten beim Wrack gedreht und damit viel mehr dokumentiert, als zu erwarten war. Doch zügig finden die Taucher im Unterseearchiv der Titanic die falschen Dokumente, die die fiktive Liebesgeschichte an Bord in Gang bringen, und nach einer guten Viertelstunde Tauchgang hat Hollywood auch schon wieder die Kontrolle übernommen.

Die halbdokumentarische Expedition an den Meeresgrund liefert nichts anders als den spektakulären Aufhänger für eine überflüssige Story. Mit seinem Erfolgsrezept steuert der Film geradewegs auf eine Umkehrung des Titanic-Effekts zu. Das Schiff verdankt dem Unglück seine Bekanntheit. Der Film verdankt der Bedeutungslosigkeit seinen Erfolg.

„Titanic“. Drehbuch und Regie: James Cameron, Kamera: Russell Carpenter, Musik: James Horner, mit Leonardo diCaprio, Kate Winslet, Billy Zane, USA 1997, 192 Min.