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Nach oben killen

■ Keine Pulp Fiction, sondern Anatomie der Gewalt: Patricia Melo beschreibt die brasilianische Gesellschaft mit den Augen eines gedungenen Mörders. Er tötet alles, was "arm und schwarz" ist

Früher praktizierte der Zahnarzt Dr. Carvalho in Rio de Janeiro. Ein Patient, dem die Behandlung zu teuer war, schoß ihm ins Knie. Der Patient nannte sich „O Cobrador“ („Der Abkassierer“) und zog aus schierem Klassenhaß weiter mordend durch die Stadt. Die Geschichte vom „Cobrador“ finden wir in Rubem Fonsecas gleichnamigem Erzählungsband von 1979. Heute ist Dr. Carvalho nach São Paulo umgezogen, betreibt dort wieder eine Zahnarztpraxis und heuert Máiquel an, damit der für eine Gruppe „mittelständischer“ Geschäftsleute alles tötet, was den Herrschaften nicht in den Kram paßt: potentielle und virulente Kleinkriminelle, vorwiegend „arm und schwarz“.

Máiquel ist die Hauptfigur von Patricia Melos 259-Seiten-Monolog „O Matador“. Der direkte Bezug auf Fonsecas schlanke, knapp 20seitige Erzählung (die Beschreibung von Dr. Carvalho übernimmt Melo in beinahe wörtlichen Zitaten, und auch das Ende des Doktors steht in einem direkten Zusammenhang zu Fonsecas Text) ist keineswegs nur die Hommage einer gelehrigen Schülerin an den großen Meister der brasilianischen Literatur, sondern steht für eine veränderte Sicht auf eine Gesellschaft, die damals wie heute von dem obszönen Gegensatz zwischen arm und reich geprägt ist. Der „Cobrador“ schlachtet aus Haß solche, die mehr haben als er. Der „Matador“ wird von denen angeheuert, die „mehr“ haben. Der „Cobrador“ ist ein durchgedrehter Klassenkämpfer, der „Matador“ will mittels Töten nach oben. Was ihm auch beinah gelingt. Hätte er am Schluß nicht einen Falschen umgelegt...

Patricia Melo läßt den Schluß offen, aber keinen Zweifel daran, daß man sich in Brasilien gesellschaftlich zumindest ein bißchen nach oben killen kann. Das ist ein handfester politischer Kommentar. Die Militärs hatten Fonsecas blutige Erzählungen wegen „sinnloser Gewaltdarstellung“ verboten, vermutlich weil man in seinem „Cobrador“ auch einen (leicht überzeichneten) politischen Impetus sah. Melos „Matador“ gilt als gesellschaftlich eher wertvoll. Deswegen wird er von den Leuten in seinem Viertel auch gemocht, mit Geschenken und Reputation überhäuft. Und weil man den Beifall der vox populi für solchen Vigilantismus auf einem bestimmten sozialen Nährboden wahrlich kennt, kann Patricia Melo die sozialpolitische Analyse als bekannt voraussetzen und sich auf das Innenleben des erbärmlichen Würstchens Máiquel konzentrieren.

Ihre Inszenierung dafür ist riskant. Alles wird mit den Augen Máiquels gesehen, alles aus seiner Sicht erzählt. Er ist ein geschwätziges Kerlchen, ein testosterongesteuerter Dumpfnickel, dessen Schwelgen in eroticis genauso peinlich ist wie seine pseudophilosophischen Ansichten über Hunde, Lifestyle und Familienleben. Warum er seinen ersten Mord begeht (das Opfer war ein schwarzer Dieb, deshalb war der ekle Dentist auf ihn aufmerksam geworden), weiß er selbst nicht so genau – vermutlich wollte er seiner neuen Freundin imponieren. Zuvor hatte ihn nicht der Welt-, sondern der Zahnschmerz gepackt.

Patricia Melo hat, so verrät uns der Verlag, für dieses Buch jahrelang recherchiert und mit professionellen Killern gesprochen. Wir dürfen vermuten, daß Máiquels wildgewordene Rechtfertigungsrhetorik, sein irrer Sozialdarwinismus, sein Wunsch, menschlich zu erscheinen, aus realen Interviews kondensiert worden sind. Erfreulich, daß die Autorin all dem nicht aufgesessen ist. Denn ihr Máiquel ist keineswegs einvernehmlich dargestellt. Melo verweigert ihm die Qualitäten, die einen ambiguen Charakter aus ihm machen könnten: Witz und Komik. Deswegen ist die von der Verlagswerbung betriebene Präsentation des Buches als „Pulp Fiction auf brasilianisch“ so verfehlt.

Eine Ambivalenz allerdings bleibt: Das bluttriefende Plappermaul Máiquel, der eigentlich nur „ein Junge“ ist, „der Gebrauchtwagen verkaufte und Fan des F.C. São Paulo war“, benutzt einen viel zu „elaborierten Code“ („Haßenzyme zerfressen seine Leber“), um sein Innenleben auszubreiten. Andererseits: Was bleibt ihm anderes übrig als literarische Kunstfigur? Wären Sprache und emotionaler Haushalt in ein Verhältnis von 1:1 gebracht, ich fürchte, das Buch wäre bald an die Grenzen des Unsäglichen gestoßen. So bleibt es ein interessanter Versuch, eine Stimme aus dem „belly of the beast“ hörbar zu machen. Thomas Wörtche

Patricia Melo: „O Matador“. Roman. Dt. von Barbara Mesquita. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1997. 259 Seiten, 32 DM

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