Der Streik ist beendet, nicht der Protest

Auf dem bundesweiten Kongreß „Bildung und Gesellschaft“ machen sich die studentischen AktivistInnen Mut. Zwischen Systemveränderung und Uni-Reform bleiben ihre Forderungen aber wenig konkret  ■ Aus Berlin Ralph Bollmann

Während andere StudentInnen debattierten, sortierte Andreas Biesenthal Stimmzettel. Das Gesicht des bedächtigen Studentenvertreters verfinsterte sich zusehends. Am Freitag abend, kurz vor sechs, stand das Ergebnis der Urabstimmung an der Berliner Humboldt-Universität fest. Es war wenig erfreulich für die studentischen StreikaktivistInnen: Knapp 70 Prozent der StudentInnen ziehen es vor, von diesem Montag an wieder Vorlesungen und Seminare zu besuchen.

Den OrganisatorInnen kam es überhaupt nicht gelegen, daß der bundesweite StudentInnenkongreß „Bildung und Gesellschaft“ just mit dem Ende des Streiks an einer der beiden Gastgeber-Unis zusammenfiel. Sie hatten gehofft, daß die Tagung den Protest neu beleben würde. Doch nach der Berliner Urabstimmung mußte selbst die „Oberthemengruppe Protestformen“ eingestehen, daß „die Basis bröckelt“ und „der Streik in der bisherigen Form kaum noch durchzuhalten ist“. Die StudentInnen reagierten schnell: Flugs präsentierten sie das Konzept eines „rotierenden Streiks“. Einer Neuordnung der Bundesländer quasi vorausgreifend, wollen sie die Bundesrepublik in sieben Regionen aufteilen, in denen sie nur noch abwechselnd streiken.

Die eigentliche Frage ist aber unverändert, was sie mit ihren Aktionen erreichen wollen. Der Katalog der Forderungen, den die Arbeitsgruppen am späten Samstag abend im Audimax der Technischen Universität vorstellten, war lang und unübersichtlich. Die Palette reichte von der großen Systemveränderung bis zu Details der Studienorganisation. Wer indes glaubt, die „radikale Überwindung des kapitalistischen Systems“ lasse sich mit dem bloßen Wunsch nach „mehr Tutorien“ kaum vereinbaren, kennt die ProtestlerInnen von heute schlecht. Mit geradezu stoischer Ruhe beklatschten sie artig jede einzelne der zahllosen Forderungen. Es wunderte sich auch dann niemand, als ein Student angeblich exklusive Informationen über „Geheimverhandlungen“ der OECD bekanntgab, die den multinationalen Konzernen den Status von Staaten einräumen und jede Unternehmensbesteuerung als „Enteignung“ verbieten wolle.

Vielleicht lag es ja an der späten Stunde, zu der die vermeintliche Spaßgeneration sich im Audimax versammelt hatte, und an der ständigen Mahnung der Moderatorin, „daß wir das Audimax um viertel nach zwölf verlassen müssen“. Vielleicht lag es aber auch an der Vorliebe der VeranstalterInnen für eine minutiöse Organisation, die jeder „Oberthemengruppe“ exakt fünf Minuten für die Vorstellung ihrer Thesen und fünfzehn Minuten für die Diskussion zubilligte. Vorsichtshalber hatten sie auch an jedem der drei Saalmikrofone einen Aufpasser plaziert, der den Mikro-Knopf fest in der Hand behielt.

Damit hatten die StudentInnen eine Lehre aus dem vorangegangenen Abend gezogen, als mehrere Podiumsdiskussionen völlig aus dem Ruder gelaufen waren. Redner des „Linksruck“ hatten die Diskussionen derart monopolisiert, daß es schon schien, als spalte sich die StudentInnenbewegung in eine schweigende Mehrheit und eine radikalisierte Minderheit. Es ging freilich auch um zwei Themen, an denen sich die Gemüter der „Achtundneunziger“ besonders erhitzen – ihr Verhältnis zu den Achtundsechzigern und das Bild des Protests in den Medien.

Insbesondere erzürnte sie, daß die ergrauten ProtestlerInnen von einst den Sinn eines studentischen Streiks anzweifelten. „Warum demonstriert ihr, daß ihr überflüssig seid?“ hielt ihnen der Soziologe Bernd Rabehl entgegen. Von den „Mamis und Papis“, die ihren „Status als großartigste Revolte in der Geschichte der BRD“ verteidigten, waren die Angegriffenen dann so genervt, daß sie auch die verständnisvollen Worte des Politologen Peter Grottian nicht mehr hören mochten, der den „strukturellen Ausgrenzungsprozeß der jüngeren Generation“ beklagte.

Dabei war der Kongreß durchaus vom Grundgefühl dieser Ausgrenzung getragen. „Diskriminierung aufgrund von Lebensalter“ war eines der Themen, mit denen sich die Obergruppe zu gesellschaftlichen Minderheiten befaßte. An diesem Gefühl mag es auch liegen, daß die meisten TeilnehmerInnen die Hochschulreform von der Gesellschaftsreform nicht trennen wollten und gegen den Neoliberalismus insgesamt zu Felde zogen.

Eine kleine Minderheit nur mochte sich in die Niederungen der Themengruppe „Hochschulstruktur“ begeben. Sie verlangte, die hierarchische Personalstruktur an den Unis aufzuheben. Professoren und sonstige Mitarbeiter möchte sie arbeitsrechtlich gleichstellen, Habilitation und Beamtenstatus abschaffen, den StudentInnen mehr Mitsprache einräumen. Weniger konkret waren die Wünsche zu Inhalt und Organisation der Lehre. Prüfungen in ihrer jetzigen Form seien eine „Vergewaltigung des neurophysiologischen Funktionsapparats“, erklärte ein Sprecher der Arbeitsgruppe seinen ZuhörerInnen. Die Tafel hinter ihm erinnerte noch an eine solche Prozedur. „Bitte nur jede zweite Reihe, jeden zweiten Platz besetzen“, stand dort.

Solchen universitären Ritualen stellte der Kongreß seine eigenen entgegen. Schnell hatten die TeilnehmerInnen eine eigene Zeichensprache für Anträge zur Geschäftsordnung entwickelt. Viele hielten rote Karten parat, die sie bei Bedarf in die Höhe hielten. Nicht allein Redner, die eine „geschlechtsneutrale Sprache“ vermissen ließen, bekamen sie zu sehen. Auch jede vage Andeutung, bei sozialer Abfederung seien Studiengebühren nicht völlig auszuschließen, quittierte das Plenum mit den roten Karten.

Zu den Ritualen gehörte aber auch die Selbstvergewisserung der AktivistInnen angesichts einer bröckelnden Basis. „Es ist schön, euch da zu haben“, sagte ein Organisator, und eine Studentin aus Australien rief: „It's fantastic, and you can win!“