: Jenseits der Meinungsfreude
Der Spezialist des Allgemeinen sollte ein Spezialist sein. Ein Plädoyer für den Intellektuellen ■ Von Kurt Scheel
Schön ist es, wenn Intellektuelle schweigen. Schöner ist es, wenn sie reden. Am schönsten ist es, wenn Intellektuelle über das Schweigen der Intellektuellen reden.
Die schönsten Zeiten sind offenbar schon wieder vorbei. Günter Grass hat wie so oft in den letzten Jahren verkündet, daß die Bunzreplik praktisch-faktisch eine geschickt, nämlich demokratisch maskierte Form faschistischer Barbarei ist, und diesmal hat es geklappt, alle sind drauf angesprungen. „Es ist wohl so, daß wir alle untätige Zeugen einer abermaligen, diesmal demokratisch abgesicherten Barbarei sind.“
Wenn er recht hätte, gäbe es die bekannte Möglichkeit, er löste das Volk auf und wählte ein anderes. Aber glücklicherweise übertreibt unser Levitenleser ein wenig, sind doch nicht „wir alle“ untätige Zeugen der neuen Barbarei – er ist ja noch da, der unermüdliche Praezeptor Germaniae, der Roß und Reiter nennt, Flagge zeigt, warnt und mahnt – und darüber hinaus schämt er sich auch noch für uns, die Mitläufer, die Schreibtischtäter, öffentlich, in der Paulskirche!
Danke, Günter Grass! Aber Ihre Scham ist unsere Schande, denn Sie als einziger (neben Staeck, Christa Wolf usw.) sind ja unschuldig! Schämt sich für mich, nimmt meine Schuld auf sich – das kann ich ja gar nicht annehmen, das hat ja schon fast etwas Jesusmäßiges...
Grass spricht eben oft und gerne wie die anderen Intellektuellen seines Schlages in der Tradition alttestamentarischer Propheten, die sich ja auch mit einer gewissen Lust von der moralischen Verkommenheit ihres Volkes nährten und dick und fett dabei wurden. „Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes“ – schön, daß es wenigstens diesen einen Gerechten unter uns gibt, der an einen anderen, älteren Gerechten erinnert: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, untätige Zeugen...“
Dieses letzte Zitat ist nicht aus Grass' Friedenspreis-Laudatio, sondern aus der Bibel (Lukas 18), und gesprochen wird der Satz von einem Pharisäer. Das ist eigentlich ein Schriftgelehrter, im übertragenen Sinn versteht man darunter laut Duden einen dünkelhaften, selbstgerechten Heuchler, jemanden, der hauptsächlich damit beschäftigt ist, seine moralische Überlegenheit ins rechte Licht zu setzen.
Aber ich schweife ab, zurück zu Grass. Warum ist sein ranziger Moralismus nicht nur zum Lachen? Weil er damit so erfolgreich ist, weil sein eitles Gerede eben nicht taktvoll übergangen wird („ein bedeutender Schriftsteller, aber leider hat er politische Wahnvorstellungen“), sondern es immer wieder auf die erste Seite der Zeitungen schafft –, daß ihm in diesem Fall ein nützlicher Idiot in Gestalt des CDU-Hintze behilflich war, sei zugegeben. Aber auch ohne diesen zweiten Pastor hätte Grass sein geistig-moralisches Spiel gewonnen, denn unsere Altintellektuellen sind Nostalgiker, sie träumen immer noch gern von den politisch schlimmen Zeiten, die bekanntlich moralisch gute Zeiten waren...
Und dabei unterläuft es ihnen gelegentlich, fast wider Willen, daß sie sich nach diesen schlimmen Zeiten zurücksehnen: Ach, wenn uns doch endlich wieder einmal jemand Ratten und Schmeißfliegen nennen würde!
Aber wir haben sie doch gebraucht
Statt dessen klopft ihnen der oberste Repräsentant dieser demokratisch abgesicherten Barbarei auf die Schulter und fleht sie geradezu an, noch ätzender und sperriger und unbequemer zu sein (ob unbequeme Wahrheiten oder unbequeme Dummheiten: Hauptsache unbequem). Unsere Querdenker haben sich offenbar, in den Worten von General Harras, zu Tode gesiegt. Bitter.
Dabei waren sie nicht immer so nervtötend. In den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren haben wir sie doch gebraucht und geehrt: Grass gegen Erhard, Böll gegen Carstens, alle gegen Springer, das war doch gut und richtig!
Ach, waren das schöne Zeiten! Es waren andere Zeiten, und das Mißtrauen, der Kampf gegen einen Staat, der sich als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches in fürsorglichster Weise der alten und neuen Nazis in Politik und Wirtschaft angenommen hatte, war mehr als berechtigt.
Seit 68, seit der Kanzlerschaft von Willy Brandt und Helmut Schmidt, ist aber die verordnete Demokratie zu einer genuinen geworden. Ich erinnere mich gut, daß kluge Freunde, als Kohl Kanzler wurde, ernsthaft an Emigration dachten. Auch wenn es langsam allerhöchste Zeit wird, Kohl loszuwerden: Daß seine ewige Herrschaft eine Bedrohung der Demokratie gewesen ist, kann ich eigentlich nicht sagen.
Es tut mir leid, daß ich das so schonungslos und auch noch in der taz aussprechen muß: Die heutige Bunzreplik ist ein demokratischer Staat, trotz aller Mucken und Fehler. Beispielsweise wählen die dämlichen Wähler seit vielen Jahren immer die Falschen. Aber immerhin nicht die ganz Falschen. Wenn ich daran erinnern darf: Seit dreißig Jahren gibt es keine NPDler, keine Repse, keine DVUler und ähnliches Gesockse im Bundestag, obwohl doch in Deutschland – wie in allen anderen Ländern – etwa ein Viertel der Bevölkerung politisch nicht zurechnungsfähig ist. Wenn ich da an Le Pen oder Berlusconi denke, so ist das doch ein sehr schönes und lobenswertes Ergebnis.
Und deswegen ärgert es mich schrecklich, wenn bei jeder Untat, die hier passiert, sofort „Auschwitz“ gerufen wird. Das Dritte Reich ist die Folie der Altintellektuellen, vor der sie agieren. Und wenn ihnen ihre Arbeitsgrundlage auch weggebrochen ist, so erfinden sie sie eben neu, wenn ihnen etwas an der Bunzreplik nicht paßt. Das aber ist dumm und falsch, denn es verdirbt die moralischen und die intellektuellen Standards.
Keine Sorge, es bleibt genug zu kritisieren, und das Unheil wächst ja nach. Aber warum sich nicht ein bißchen kundig machen? Beim Intellektuellen, so jedenfalls meine Devise, sollte das Gehirn doch immer a bißl dabeisein. Wenn Grass' Barbarei-Verdikt Substanz hätte, was wäre dann vom Asylrecht in Frankreich und Italien zu sagen, in den USA und Japan, um nur einige Demokratien zu nennen? Alles fascho?
Das Gehirn sollte schon dabeisein
Die Interventionen der Altintellektuellen laufen in der Regel darauf hinaus, daß sie Zuckererbsen für jedermann fordern. „Pro bono, contra malum“ ist ihr Wahlspruch: Wir alle wünschen allen alles Gute. Das ist zwar eine entzückende und hochlobenswerte moralische Grundeinstellung, aber eigentlich kein Beitrag zur Politik. Denn in der Politik geht's um knappe Ressourcen, und was der eine kriegt, kriegt der andere wahrscheinlich nicht, weil es eben schon futsch ist, begreift das doch endlich, Dummerchen!
Um es auf den Punkt zu bringen: Politik ohne Moral ist schärfstens abzulehnen. Moral ohne Politik ist Selbstbefriedigung – muß bekanntlich auch ab und zu sein, aber bitte nicht öffentlich in der Paulskirche!
Nachdem ich mich nun über die moralischen Intellektuellen (auch „Gutmenschen“ genannt, ein Terminus, den ich 1992 erfunden habe, woran Sie schon sehen können, wie lange und erfolglos ich diesen Kampf führe, was meine gewisse Bitterkeit wenn nicht akzeptabel, so doch immerhin verständlich machen sollte) ausgeteufelt habe, will ich noch auf einen anderen Punkt hinweisen, der mir das Gerede vom Schweigen der Intellektuellen so schwer erträglich macht: Es stimmt ja gar nicht.
Es wird ja permanent geredet, von Frau Schreinemakers über Herrn Willemsen bis zu Herrn Wickert, und das sind zweifellos Intellektuelle. Die Zeitungsjournalisten, die Rundfunk- und Fernsehkommentatoren – Tausende, die uns täglich die Welt erklären, alles Intellektuelle: „Menschen, die i.d.R. wissenschaftlich gebildet sind, eine geistige, künstler., akadem. oder journalist. Tätigkeit ausüben und deren Fähigkeiten und Neigungen auf den Intellekt ausgerichtet sind“. So steht's im Brockhaus, ich kann doch nichts dafür!
Aber das hieße ja, daß wir so ziemlich alle, jedenfalls sehr viele... Ja, genau das. Und deshalb sind diese intellektuellen Päpste und Präzeptoren auch überflüssig geworden, wenn sie nur von der Macht ihrer Prominenz leben und keine Argumente beitragen. Keine Argumente haben, sondern Meinungen, das kann Harald Schmidt besser als Günter Grass, denn er ist noch prominenter.
Das Projekt der Moderne (im Sinne von Jürgen Habermas – warum schweigt der nur so ausdauernd?) verlangt ja geradezu von uns, daß wir den Spezialisten des Allgemeinen, so Sartres berühmte Definition, aufs Maul schauen und sie daran erinnern: Spezialisten sollt ihr sein, keine bloßen Meinungsverkünder. „Wenn ich König von Deutschland wäre, dann würde ich erst einmal“: So geht's an jedem Stammtisch zu, und wenn von den Intellektuellen nicht mehr kommt, dann sind auch sie nur Schwadroneure.
Deshalb ist jemand wie Enzensberger eine so erfreuliche Ausnahme: Er hat mit der Meinungsfreude seit vielen Jahren aufgehört. Er macht sich, wenn er sich zum Allgemeinen äußert, vorher kundig, wird tatsächlich Spezialist des Allgemeinen, ob über Asylpolitik und Migration oder über gesellschaftliche Gewalt.
Zum versöhnlichen Schluß: Schön ist es, wenn Intellektuelle reden. Schöner ist es, wenn sie etwas zu sagen haben.
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