: Für Belgrad das kleinere Übel
■ In Serbien gibt es inzwischen über 300 regimeunabhängige Rundfunksender, dennoch herrscht Einheitsbrei. Dem will der erste christlich-orthodoxe Radiosender jetzt etwas entgegensetzen
Wien (taz) – Was braucht ein moderner christlicher Radiosender? Natürlich viel flotte Rockmusik, meint Protodiakon Ljubomir Ranković, Direktor von Serbiens erstem Kirchensender. Die „Stimme der Kirche“ will mit ihrem ganztägigen Programm „die Jugend, die Alten, die Religiösen, die Nihilisten“ erreichen und eine Stimme für alle Serben sein. Das ist die eigentliche Absicht, die die serbisch-orthodoxe Kirche mit ihrem Projekt verfolgt, das am 6. Januar, dem orthodoxen Weihnachtstag, auf Sendung ging.
Denn aus Sicht des Heiligen Synod, der orthodoxen Bischofskonferenz, vernachlässigt das Regime in Belgrad „die serbische Frage“ im Kosovo, jener zu 90 Prozent von Albanern besiedelten ehemaligen Provinz im Süden der Republik, und setzt sich nicht entschieden genug für den „Überlebenskampf“ der bosnischen Serben ein. Deshalb will die Kirche ein Forum schaffen, auf dem die „Zukunft des Serbentums“ ohne Tabus diskutiert werden können soll. Langfristig plant die „Stimme der Kirche“ zusätzlich den Betrieb eines landesweiten eigenen Fernsehkanals mit Relaisstationen im serbischen Teil Bosniens und im Norden von Makedonien.
Was vor einem Jahr noch undenkbar schien, gehört heute zum serbischen Alltag: Regimeunabhängige Radiosender und Stadtradios sprießen wie Pilze aus dem Boden. Auf den ersten Blick hat sich die Forderung nach Medienfreiheit also erfüllt, die, neben anderen Bürgerrechten, während des 75tägigen Dauerhappenings vor 12 Monaten von Zehntausenden auf den Straßen Belgrads angemahnt worden war. Doch ebenso wie die bunt zusammengewürfelte Protestbewegung längst in Dutzende machtlose Fraktionen und rivalisierende Grüppchen zerfallen ist, ist auch von Originalität in der Medienwelt wenig zu spüren.
Als gäbe es eine stille Übereinkunft, dudelt aus den Sendern rund um die Uhr die immer gleiche Art von Musik: entweder neukomponierte Volksmusik oder Serben- Rock, gemischt mit internationalen Mainstream-Hits. Die Nachrichtensendungen sind meist kurz, ihre Auswahl und Präsentation stereotyp. Die meisten der über 300 Radiostationen übernehmen den gesamten Nachrichtenblock vom Staatssender Radio Belgrad I; nur einige wenige schalten statt dessen über Satellit auf westliche Informationsquellen wie BBC, Radio Freies Europa oder Deutsche Welle und deren Sendungen in serbokroatischer Sprache.
Hierzu will die „Stimme der Kirche“ ein Kontrastprogramm bieten. Eigene Nachrichtensendungen, Musikproduktionen und Live-Diskussionen, „regimekritisch, aber auch frei von westlichen Einflüssen“, schweben Direktor Ranković vor. Er hat schon einige Erfahrungen darin gesammelt, CDs und Videoclips jenseits von religiöser Musik zu vermarkten. In mehreren Zeitungen und Plattenfirmen steckt Kapital der serbisch- orthodoxen Kirche. Der Synod besitzt einige Provinzzeitungen, und in Nis und Priština beträgt die Kapitaleinlage der Kirche bei den örtlichen Radio- und Fernsehstationen über 30 Prozent.
Vor einem Jahr noch argwöhnisch beäugt, findet sich die Belgrader Regierung mit der Medienoffensive der Kirche langsam ab. Die Teilung der Medienmacht mit dieser, so die Überlegung, ist immer noch ein kleineres Übel, als sich mit der politischen Opposition arrangieren zu müssen. Denn sechs Jahre nach dem Zerfall des einst kommunistischen Vielvölkerstaats Jugoslawien hat Serbien seine nationale Identität noch nicht gefunden, noch immer gehört fast jeder dritte Bürger einer nationalen Minderheit an, rumort es im albanischen Kosovo, im muslimischen Sandžak und in der multinationalen Region Wojwodina.
Die „Stimme der Kirche“ hat auf die Fragen der Zeit eine simple Antwort. „Wir senden für alle Serben“, erklärt Vordenker Ranković, „egal, wo sie leben, zu welcher Religion sie sich bekennen und zu welchen regionalen Eigenheiten.“ Karl Gersuny
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