piwik no script img

Von morgens sechs bis abends halb sieben

Supermärkte, Tankstellen, Zigarettenautomaten: Alles keine Einrichtungen, denen Peter Andretzki etwas abgewinnen kann. Er betreibt einen Kiosk in Bonn-Beul. Nur noch die alten Kunden schätzen den Tratsch an der Ecke  ■ Aus Bonn Markus Franz

Vor vierzig Jahren, als noch niemand den Kioskbetreiber Peter Andretzki als „Saurier“ bezeichnete, „der auch noch ausstirbt“, gab es im Bonner Stadtteil Beul keine achtstöckigen Wohnblocks mit Zigarettenautomaten davor. Da war nur ein weiter Acker. Im Sommer konnte Klein-Peter darauf prima Kornbüdchen bauen. Der Kiosk an der Ecke Elsa-Brandström-Straße/ Ernst-Moritz-Hahn-Straße war noch eine weiß gestrichene Holzbude mit Vordach. Heute steht da Andretzkis 30 Quadratmeter großer Steinbau mit vergitterten Fenstern, Videokamera und Leuchtreklame.

Nebenan war früher ein Schwimmbad mit getrennten Becken für Schwimmer und Nichtschwimmer. Damals mußte eben noch nicht jeder alles können. Peter und seine Freunde sind mit Schleppkähnen rheinaufwärts nach Königswinter gefahren. Unter der Südbrücke zogen sie sich aus und schwammen zu den Schlauchbooten, die die Kähne hinter sich herzogen. „Die Klamotten“, sagt Andretzki, „konnte man liegen lassen.“

„Diese Zeiten sind vorbei.“ Frau Schmitz, eine Dame um die 70, kauft die Bild-Zeitung und zwei Schachteln Lord: „Ich wundere mich, wie viele Fahrräder hier in Beul noch stehen.“ – „Der schönste Diebstahl“, erinnert sich Andretzki, „war da drüben beim Bäcker. Da stellte jemand sein neues Fahrrad ab. Und als er drinnen auf ein Brötchen zeigt, steigt draußen einer auf – und ist weg.“ Selbst wenn er einen leeren Karton vor dem Kiosk abstelle, werde der geklaut, „weil man denkt, da ist was drin“.

Frau Reinhard ist eingetreten, weiße Locken, große Brillengläser, eine fleckige Ledertasche in der Hand. Übergangslos nimmt sie den Faden auf: „Bei Rewe hatte eine schon bezahlt. Dann ist sie zurück und hat Blumen mitgehen lassen. Da habe ich mich aber nicht reingehängt.“

Andretzki nickt. „Mein Vater hat früher Kohle von den Waggons geklaut. Aber das war Selbsterhaltung. Heute hat man's doch gar nicht nötig.“

„Nee“, meint Frau Reinhard, „es gibt viel Armut. Wenn ich sehe, wie die Frauen auf die Preise gucken.“

„Wann ist man arm?“ fragt Andretzki.

„Wenn man keinen Mann mehr hat“, sagt Frau Reinhard. Einen Moment ist es still.

„Ich finde das herrlich“, sagt Frau Schmitz.

Andretzki: „Keine Dreckwäsche mehr...“

Frau Schmitz: „Keiner sagt: Hol mir dies, hol mir das. Oder: Jetzt gehen wir ins Bett.“

„Ich will nicht“, hat kürzliche eine Dame gesagt, „daß Sie soviel über alle hier wissen“

So geht es, das tägliche lange, nur um seiner selbst willen geführte Gespräch. Seit 21 Jahren steht Andretzki hinter seinem Tresen mit Glasplatte vor Regalen voller Süßigkeiten, Zeitschriften und Tabak. Frau Schmitz, die Berlinerin, lebt seit acht Jahren auf der Schäl Sick, wie die Rheinländer die rechte Rheinseite abfällig nennen. Bei Andretzki, den alte Kunden „Kamelle Pitter“ nennen, hat sie ihre Kontakte geknüpft: „Hier kann man mal ein Wort sprechen.“ Im Supermarkt heiße es doch höchstens: „Wie geht's denn heut?“

Wenn alle Beuler denken würden wie Frau Schmitz, hätte Andretzki in den letzten Monaten wohl keine 168 Bewerbungen geschrieben. Er will den Kiosk aufgeben, den sein Vater 1954 gekauft und den er vor 22 Jahren übernommen hat – damals, als man noch gute Geschäfte machen konnte.

Viele der Stammkunden haben sich noch vom Vater bedienen lassen. Jetzt kann Andretzki an den Todesanzeigen seinen Umsatzschwund ablesen. Es gibt Stunden, da bleibt er in seinen 30 Quadratmetern allein. Wochentags steht er von früh um sechs bis abends halb sieben hinterm Tresen. Seine Schwester ist Lehrerin und im letzten Jahr dreimal im Urlaub gewesen. Andretzki ist in seinem Arbeitsleben zweimal zwei Wochen verreist. Einmal nach Mallorca.

Immer mehr Leute ziehen dem Kiosk an der Ecke Supermärkte, Tankstellen und Zigarettenautomaten vor, wo es mehr gibt als Zeitungen, Tabak, Getränke und Süßigkeiten. Wie der Rentner, der fünfmal am Tag mit dem Fahrrad vorbeifährt. Und abends sieht Andretzki dann, wie er im Tankstellenshop Schnaps und Zigaretten kauft. „Das hätte es früher nicht gegeben“, meint er traurig. Ebensowenig, daß Stammkunden aus dem Wohnblock hinter dem Kiosk nach zwanzig Jahren in Bonn-Beul wegziehen und sich nicht bei ihm verabschieden.

Immer mehr Leute können eben darauf verzichten, daß da ein Mensch hinter der Ladentheke steht, und dann noch einer, der ihre Namen kennt und die ihrer Eltern, Ehepartner und Kinder. Der weiß, welche Schulnoten sie früher hatten und welche Krankheiten sie gerade plagen, ob sie vielleicht arbeitslos sind und was das geschwollene Gesicht von Frau Soundso zu bedeuten hat.

„Ich will nicht“, hat kürzlich eine Dame zu Andretzki gesagt, „daß Sie soviel über alle hier wissen.“ Eine andere Kundin, die freitags die Hörzu und den Express und samstags den Generalanzeiger und den Express kauft, hat ihn gebeten, ihr die Zeitungen nicht immer entgegenzustrecken, sobald sie den Laden betritt. „Ich will mich selbst entscheiden.“

Seitdem achtet Andretzki nur dezent darauf, daß immer ein Exemplar des Gewünschten für sie übrigbleibt.

Aber noch gibt es ja Kunden wie Frau Hartwig, die „Saurier“ wie Andretzki füttern. Sie betritt den Kiosk, als eben ein Kunde Milch aufwischt, die er auf dem Linoleum verschüttet hat. Milch aus dem Supermarkt. „Was ist denn hier passiert?“ fragt die 79jährige. Sie ist elegant, mit Hut. Ohne eine Antwort abzuwarten, sagt sie: „Ach, das ist nicht schlimm. Schlimm ist, daß meine Zähne weg sind.“ Sie zieht eine Reihe von künstlichen Zähnen aus ihrem Mund. „Ich habe nur noch acht eigene. Und die werden morgen auch noch gezogen. Halb zehn. In der Klinik. Dienstag bin ich wieder zu Hause. Nächste Woche muß ich wieder fit sein. Dann ist Klassentreffen in Dortmund. Meine Haare sind jetzt weiß, nicht mehr gefärbt. Abgenommen habe ich auch. Die sind schon gespannt, wie ich aussehe.“

Aus der zweiten Reihe sagt eine Frau in den Redeschwall hinein: „Ich brauche eine Fernsehzeitung.“ Andretzki greift eine Hörzu, während Frau Hartwig weiterredet. „Heute nachmittag bekomme ich Herrenbesuch. Der hat mich beobachtet und will mich jetzt kennenlernen. Ich hab' gesagt: Kommen Sie um halb vier. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Wie sehe ich denn aus? Peterle, eine Flasche Bier. Für den Mann, der um halb vier kommt. Er ist Schlosser. Genau meine Kragenweite. Der kann einen Nagel in die Wand schlagen. Was kostet das Bier?“

„2,10“, sagt Andretzki. „Plus das von gestern, macht 34 Mark.“ – „Die hab' ich nicht mehr“, sagt Frau Hartwig. „Nur noch 25 Mark.“ – „Macht nix. Sie haben bei mir Kredit.“

Dabei wird die Zahlungsmoral immer schlechter. Am teuersten kam Andretzki ein Selbstmörder, der von der Brücke gesprungen ist. „Der hat Beul mit 25.000 Mark Schulden verlassen.“ Andretzki beansprucht 1.400 Mark davon. Aber die Erben wollen nicht zahlen. Sie haben einen Anwalt geschickt, der Beweise sehen wollte. Andretzkis Notizen in seinem schwarzen Buch waren da wenig wert. Manche Kunden, sagt Andretzki, versuchen es mit Tricks. Die Frau sagt, ihr Mann habe doch schon gezahlt, und umgekehrt. „Früher“, sagt Andretzki zum wiederholten Mal, „früher wurde gezahlt!“

Von jeder Mark, die ihm fehlt, kann er sagen, wo sie geblieben ist. 8.000 Mark brutto im Monat kostet ihn, daß es jetzt auch im Frings- Gymnasium einen Kiosk gibt. Um 400 Mark brutto bringt ihn der Zigarettenautomat vor dem Block. „Viele Kunden haben mir gesagt, sie würden ihre Zigaretten nicht da ziehen“, sagt Andretzki. „Aber klar: Mit ihren Schluffen gehen die doch runter zum Automaten.“

„Aber klar“, meint er, „die gehen doch runter zum Automaten!“

Besonders stark schädigen ihn die Supermärkte. „Vor sieben Jahren war das“, erzählt Andretzki, kurz vor Ende der großen Schulferien. Er hatte einen Kofferraum voll Schulhefte, Radiergummi, Füller eingekauft. Dann sah er die Anzeigenbeilage vom Kaufhof im Bonner Generalanzeiger. Die Pelikanfüller waren zur Hälfte billiger, als er sie eingekauft hatte. „Da habe ich alles zurückgegeben.“

Selbst die Erfindung des Videorecorders hat sich gegen seine Existenz gerichtet. Sein Vater Georg, auch als Porno-Joe bekannt, deckte die laufenden Unkosten noch allein mit dem Verkauf von Pornos. Andretzki nicht: „Bewegte Bilder sind ansprechender.“

Andretzki selbst geht immer zu demselben Zahnarzt, demselben Optiker, in dieselben Geschäfte, alle in Beul, bis auf Salamander, weil das Beuler Schuhgeschäft nicht die richtigen Schuhe für seine Plattfüße hat. Hans-Werner, der in Schlappen auf einen Sprung vorbeigekommen ist und ein Päckchen Tabak kauft, sagt lachend: „Du bist der optimal berechenbare Kunde. Für jede Statistik ein Glücksfall.“

„Ja“, sagt Andretzki. „Man will doch mal ein Wort reden. Die Leute von der Sparkasse“, dabei zeigt er schräg über die Straße, „kennen mich schon nicht mehr. Neuerdings wird ja alles nur noch mit Bankautomaten gemacht. Können die Leute nicht in die Bank gehen?“ Hans-Werner dreht sich eine: „Du bist eben ein Saurier. Du stirbst auch noch aus.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen