: „Algerien hat keine Zukunft mehr“
Während des Ramadans schaut die algerische Exilgemeinde in Frankreich besonders besorgt in Richtung Heimat ■ Aus Paris Dorothea Hahn
Wenn von Massakern in Algerien die Rede ist, zappt Nacera auf einen anderen Fernsehsender. Die Bilder und die Worte „tun weh“, sagt sie. Sie verstehe „nichts“. Sie fühle sich „total ohnmächtig“. Und sie habe „keine Ahnung“, was das mit dem Land zu tun hat, in dem sie in ihrer Kindheit die Urlaube verbracht hat.
Vor ein paar Wochen war die junge Frau aus der Pariser Banlieue noch in der Kabylei, ihrer gebirgigen Heimatregion im Osten Algeriens. Sie hat die Großmutter beerdigt. Im Dorf war es ruhig, wie immer – „vielleicht weil die Männer schon lange bewaffnet sind, vielleicht auch, weil die Region zu arm ist, um irgendwen zu interessieren“. Aber auf dem Rückweg in die Hauptstadt Algier hat Nacera, „zum ersten Mal im Leben richtig Angst gehabt“. Vor allem vor den Straßensperren – „den echten der Militärs und den falschen der Terroristen“.
Seither ist für Nacera, die vor wenigen Jahren noch ihre Zukunft in Algerien sah, alles anders. Sie telefoniert immer weniger mit ihrer Cousine in der Kabylei. In diesem Sommer will sie nicht einmal mehr dorthin fahren. „Algerien hat keine Zukunft mehr“, sagt sie, „zuviel Elend, zu viele Extremisten. Und nicht die geringste Lösung in Sicht.“
In dem großen weißen Zelt auf dem Pariser Place de Stalingrad, wo eine wohltätige Vereinigung während des islamischen Fastenmonats Ramadan allabendlich eine kostenlose Suppe zum Fastenbrechen ausschenkt, geht es vielen wie Nacera. Besonders jetzt, im Ramadan, denken sie immer an Algerien und wollen doch nichts mehr davon wissen. Bei Einbruch der Dunkelheit kommen sie in das Zelt und setzen sich an die langen Holztische, auf denen für tausend Menschen gedeckt ist. Sobald die Lautsprecher die Stimme des Muezzins übertragen, beginnen sie ihr Mahl. Sie essen die vier Datteln, trinken das Glas Buttermilch und löffeln die Suppe aus, in der zwischen Gemüse und Nudeln große Stücke Hammelfleisch schwimmen.
Der magere, kleine Versicherungsangestellte aus Bab al-Oued, seine Frau, die ein Kopftuch trägt, der kleine Sohn und das Töchterchen, das gerade erst laufen kann, drängen sich ganz eng auf der Holzbank aneinander. „Guten Appetit“, sagen sie zu ihrem Gegenüber und vertiefen sich in das Essen. Erst nach dem Essen, als sie hören, daß die Frau ihnen gegenüber aus dem Nachbarort stammt, beginnen sie leise zu erzählen. Vor sechs Monaten sind sie nach Frankreich gekommen, nachdem der Mann Morddrohungen erhalten hatte. 10.000 Franc Schmiergeld mußten sie an einen Mittelsmann zahlen, um ihre Visa zu bekommen. Jetzt sitzen sie in einer Flüchtlingsunterkunft fest. Ohne Geld und fast ohne Kontakte nach „drüben“, auf die andere Seite des Mittelmeeres. Nur daß ihr Haus zerstört wurde, haben sie erfahren. Durch wen, wissen sie nicht.
„Ich habe kein Vertrauen mehr. Zu niemandem“, tönt der kräftig gebaute Enddreißiger aus den „Höhen von Algier“. Seinen Namen will er nicht sagen, seinen Beruf auch nicht. Nur daß er „Demokrat“ sei, daß er faste und daß Religion „Privatsache“ sei. Er lebt seit Jahren in Frankreich. Aber er telefoniert immer noch jeden Sonntag zur selben Zeit mit seiner Mutter. „Wie geht's? Es geht. Die Gesundheit? Es geht. Die Familie? Es geht. Die Arbeit? Es geht“, beschreibt er den üblichen Gesprächsverlauf. Ob die Mutter Angst habe? „Woher soll ich das wissen?“ antwortet der Sohn, „wir reden nicht über Politik. Wer weiß, ob sie nicht am selben Abend erwürgt wird.“ Ob jemand in seiner Familie Opfer der Gewalt geworden sei? „Ja, aber bloß ein Onkel. Und das war nicht in Algier.“ Ob sein Stadtteil sicher sei? „Bei uns gibt es keine Terroristen. Die sind weiter außerhalb.“
Der Mann war lange nicht mehr in Algerien. Sagt, es sei ein „wunderschönes Land, aber schrecklich“. Plötzlich brüllt er über den Tisch: „Ich hasse die Armee. Die schützt bloß sich selbst und ihr Öl und ihre Dollars.“ Die Umsitzenden schweigen. Keiner widerspricht.
In Laarba, einem Ort in der fruchtbaren Mitiya-Ebene bei Algier, die seit dem Beginn der Massaker den Beinamen „Dreieck des Todes“ trägt, haben die Leute schon seit Jahren keinen Telefonanschluß mehr. „Die Militärs haben die Leitungen gekappt, damit die Terroristen sie nicht benutzen können“, erklärt ein 24jähriger lakonisch. Was seine Familie tun würde, wenn sie überfallen würde? Er zuckt die Schultern. Dann fallen ihm die jüngsten Umbauten ein: „Hinter dem Haus, wo es langsam in den Wald übergeht, haben sie alle Orangenbäume abgeholzt und Laternen aufgestellt. Die leuchten jetzt die ganze Nacht über.“ Außerdem haben viele Männer im Ort sich entschlossen, jetzt doch die ihnen von der Armee angebotenen Waffen anzunehmen. „Sie sind patriotes geworden“, sagt der junge Mann, „vielleicht hilft es ja.“
Hafid, der ebenfalls aus der Mitiya stammt, ist vor sechs Jahren nach Frankreich gekommen, weil er nicht zur Armee wollte. „Zum Glück bin ich abgehauen“, sagt er, „vielleicht hätten meine Eltern sonst auch eine Einladung zur Beerdigung ihres Sohnes bekommen, wie die Nachbarn.“ Jeden Freitagnachmittag hat er ein telefonisches Rendezvous mit seiner Mutter in „einer Institution“, wo eine Verwandte arbeitet. Über Politik reden sie nicht, „wer weiß, wer da sonst noch mithört“. Bloß von seinem zwei Jahre älteren Bruder erfährt Hafid gelegentlich, wie es zu Hause steht. Sicherheitshalber sprechen die beiden Männer italienisch miteinander. Von diesen Telefonaten weiß Hafid, daß Gendarmen seinen Bruder kürzlich an einer Straßensperre aus einem Bus geholt und gezwungen haben, in ein Haus hineinzugehen, von dem sie glaubten, daß es vermint war. „Das tun sie oft, um ihre Soldaten nicht zu gefährden“, sagt er. Der Bruder hat überlebt. Kurz darauf ging er mit einem Cousin durch den Ort. „Warum wollt ihr nicht unsere Waffen? Warum wollt ihr nicht eure Familien beschützen?“ beschimpften da Gendarmen die beiden jungen Männer, die sich geweigert hatten, patriotes zu werden. Wenige Tage später floh der Bruder nach Algier. Aus der Ferne unterstützen die beiden Söhne jetzt ihre allein zurückgebliebenen Eltern.
In der Mitiya wächst alles, was man in die Erde steckt, sagen die Algerier stolz. Viele Emigranten in Frankreich träumten ein Berufsleben lang davon, sich im Ruhestand dort ein Häuschen zu bauen. Wer den Traum verwirklicht hat, bereut das heute – oft bitter. Denn in der Mitiya herrscht seit den achtziger Jahren Gewalt. Damals konnten Schulkinder während des Unterrichts beobachten, wie aus Hubschraubern auf die „Terroristen im Nachbarwald“ geschossen wurde. Später wählten viele Dörfler in der Gegend die FIS, weil das „eine gute Partei“ war, die „gegen Korruption und Gewalt war“. Heute werden in der Mitiya auch die zurückgekehrten Rentner um ihre Ersparnisse erpreßt; wird ein alter Mann, der in den fünfziger Jahren auf seiten der Nationalen Befreiungsfront (FLN) gegen die Franzosen gekämpft hat, ermordet; und kosten die Parabolantennen „Steuern“, die von bewaffneten Männern direkt im Wohnzimmer abgeholt werden.
Die Massaker zu Anfang des Ramadans, das waren „Terroristen aus unserer Gegend“, sind die jungen Algerier überzeugt, die sich in Paris zum Fastenbrechen versammelt haben. Einer erzählt von seinem Cousin, der „in eine falsche Straßensperre“ geriet. „Die Männer kamen aus demselben Dorf wie mein Cousin. Sie haben ihn sogar zum Essen eingeladen und dann laufenlassen“, erzählt er.
In dem weißen Zelt in Paris, in dem die Suppe ausgegeben wird, hat fast jeder seine Geschichten zu erzählen. Eine Journalistin, die seit zwei Jahren im französischen Exil lebt und seither kein Wort mehr geschrieben hat, verliest jetzt ihren ersten Artikel seit der Flucht, die sie nach einem Mordversuch antrat. Sie hat den Text „Ein Volk namens Dreyfus“ betitelt und geht damit von einem Holztisch zum anderen.
Der Artikel erzählt von einer Freundin aus Algier, die immer wieder beteuert, es sei „kein Bürgerkrieg“ und daß „die Solidarität der Nachbarn untereinander, ganz egal ob Islamisten oder nicht“, immer noch funktioniere. „Das sind Kämpfe zwischen zwei verfeindeten Clans“, sagt die Journalistin. „Ich bin trotzdem dafür, daß die EU und die UNO und alle nach Algerien gehen, um die Bevölkerung zu schützen und um die Kindermörder zu eliminieren“, hält ein Anstreicher dagegen. „Ja“, sagt eine junge Kabylin, „aber nur wenn die anschließend gleich wieder gehen. Algerien ist ein unabhängiges Land.“
Je näher die „Nacht des Schicksals“ rückt, in der der Ramadan zu Ende geht, desto mehr füllt sich die Suppenküche am Place Stalingrad. „Daß ich faste, ist für mich keine religiöse Frage, mehr ein Zugehörigkeitsgefühl“, erklärt Naina, eine junge algerische Mutter. „Außerdem will ich meinem Kind einen Halt geben.“
An den Wochenenden steigen jetzt in Paris nach Sonnenuntergang rauschende Festnächte mit Tänzerinnen, Sängern und Orchestern. „Die schönen Nächte des Ramadans“ heißt eine dieser Veranstaltungen. Andere unterstützen die Sache der algerischen „Demokraten“ oder der „Republikaner“. Früher fanden diese Feste im Ramadan allabendlich in jedem Stadtteil von Algier statt. Heute sind sie auf kleine, familiäre Veranstaltungen beschränkt. „Die Leute dort haben Angst, in ein großes Stadion oder in einen Konzertsaal zu gehen“, erklärt Louisa aus Algier. „Außerdem gibt es doch in fast jeder Familie Opfer. Da feiert man weniger.“
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