: Würmer im Apfel Von Karl Wegmann
Die Idee wurde aus der reinen Not heraus geboren, als Reaktion auf die unverschämte, aber nicht totzukriegende Provokation der „guten Vorsätze fürs neue Jahr“. Immer im Januar treffen wir uns zu einem üppigen Mahl, um eine Hitliste der beliebtesten Rausch- und Genußmittel (also alles was fett und/oder süchtig macht) zu erstellen. Marken sind uns schnurzpiepe, es geht um die Herkunftsländer.
Die Stimmung ist ausgezeichnet. Kaum hat Willy die Lachsfilets auf Blattspinat serviert, geht's los. „Zigaretten“, frage ich und höre viermal „Frankreich“. Macht mit meiner Stimme fünf Punkte. Damit haben französische Sargnägel einstimmig das Rennen gemacht. Keine Überraschung. Auch tschechisches Bier bekommt wieder die vollen Punkte. Dann wird's spannend. Bei Wein geht es diesmal denkbar knapp aus (3:2) für Deutschland gegen Frankreich. Das Urteil wird heftigst diskutiert („der Hype, der da um den Bordeaux veranstaltet wird, muß endlich gebrochen werden“), bleibt aber bestehen. Hermann entkorkt ein paar Flaschen 94er Cabernet Sauvignon aus dem Napa County, Willy schleppt die Lammkeule an, und ich frage „Hochprozentiges?“. Konscho brüllt gleich los: „Metaxa!“ Der Mann hat zwar nur die ersten sieben Jahre seines Lebens in Griechenland verbracht, trotzdem glaubt er, die blauweiße Flagge seines Geburtslandes hochhalten zu müssen. Alle schütteln sich. „Das Zeug schmeckt doch wie stark gezuckertes Petroleum“, meint Bernd, und irischer Whisky gewinnt wie im Vorjahr 4:1. Nachdem ein paar weitere Cholesterinbomben (Brotaufstrich, Knabberzeug etc.) abgehakt sind, kommen wir zur Wahl der Küche beziehungsweise des Restaurants. Alle schauen auf Konscho, der wird rot wie ein gekochter Krebs, sagt aber tapfer „Hellas!“ „No way, Butt- head!“ sage ich, „keine Chance für Hackfleisch mit Thymian und Joghurt mit Knoblauch.“ Konscho schweigt beleidigt. Nach kurzer Debatte gewinnt diesmal die Thai- Küche vor der indischen.
Das Gelage hat seinen Höhepunkt erreicht, und Willy legt los mit Geschichten von der Nahrungsaufnahme im Tierreich. „Wenn der Seestern durchs Wasser schwebt“, erzählt er, „kann die Muschel schon mal anfangen, sich Sorgen zu machen. Hat der Seestern eine entdeckt, saugen die Füßchen der Mittelscheibe sich an der Muschelschale fest. Dann stemmt sich der Seestern auf den Armspitzen hoch und zieht die Muschel wie einen Flaschenkorken aus dem Grund. Mit der Kraft seiner Arme reißt er die beiden Schalen auseinander und — Obacht! jetzt kommt's — stülpt seinen Magen aus dem Bauch heraus und über die Weichteile der Beute, um sie außerhalb seines Körpers zu verdauen.“ „Unglaublich“, kommentiert Hermann, „warum macht er das bloß, oder war das vielleicht ein griechischer Seestern?“ „Vorsicht“, sagt Bernd, „das war rassistisch.“ Aber Konscho ist inzwischen so vorsichtig wie eine Maus auf einer Katzenausstellung und hält den Mund. Um ihn zu versöhnen, stellt Willy eine Flasche Metaxa (sieben Sterne) auf den Tisch, und alle trinken mit.
Nach dem Dessert (Herrencreme) sind alle wieder etwas ruhiger geworden, und wir können mit dem zweiten Teil der Veranstaltung beginnen: der Wahl der illegalen Rausch- und Genußmittel des Jahres.
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