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"Mentalität vorauseilender Anpassung"

■ Eine Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften untersuchte den Umbruch in der ostdeutschen Forschungslandschaft. In der DDR-Wissenschaft gab es "viele gute Leistungen, abe

Ostdeutsche Wissenschaft ist ein Feld für Historiker geworden. Gut sieben Jahre nach der Vereinigung ist fast nichts von ihr übriggeblieben. „Das altbundesrepublikanische Modell hat sich überall durchgesetzt“, sagte Renate Mayntz vom Mainzer Max-Planck- Institut für Gesellschaftsforschung. Gemeinsam mit dem Berliner Historiker Jürgen Kocka hat sie einen Sammelband herausgegeben, der die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zusammenfaßt. Seit 1994 hatten Dutzende von Wissenschaftlern aus Ost und West die Transformation der ostdeutschen Forschungslandschaft analysiert.

Sie war demnach besser als ihr Ruf im Westen. Die DDR-Wissenschaftler hätten sich durchaus an „international übliche methodische Standards“ gehalten, so Mayntz. Allerdings sei „die Freiheit des Fragens und Anzweifelns beschränkt“ gewesen. So habe es in der Soziologie keine Elitenforschung, bei den Wirtschaftswissenschaftlern keinen empirischen Systemvergleich, bei den Philosophen keine Marxismuskritik gegeben. Dementsprechend hätten sich Geistes- und Sozialwissenschaften im Zuge der Vereinigung weitaus stärker verändert als Natur- und Ingenieurwissenschaften.

Der FU-Historiker Kocka betonte, die Geschichtswissenschaft habe sich bislang zu sehr auf spektakuläre Fälle von Unterdrückung konzentriert. Darüber habe sie die „alltäglichen Behinderungen“ vernachlässigt, die „in der Breite“ weitaus wichtiger gewesen seien. So sieht Kocka „vorauseilende Anpassung als zentrale Mentalität“ der DDR-Wissenschaftler. Der „Ansporn zu individuellen, innovativen Leistungen“ habe ihnen gefehlt, sie seien schlecht ausgestattet und „vom internationalen Diskurs abgeschottet“ gewesen. Kockas Fazit: „Es gab zwar viele gute Leistungen, aber auch sehr viel Mittelmaß.“

Detlev Ganten, Direktor des Max-Delbrück-Centrums für molekulare Medizin in Buch, beklagte, in der Vereinigungsphase sei die „Experimentierbereitschaft auf beiden Seiten nicht groß“ gewesen, „innovative Ansätze konnten sich nicht entfalten“. Zu bedauern sei auch der drastische Personalabbau. Während im Westen heute auf 100.000 Einwohner 433 Arbeitsplätze in der Forschung entfielen, seien es im Osten nur 118. Die Integration der außeruniversitären Forschung sei wegen „falscher Prämissen“ gescheitert. Der Befund des Wissenschaftsrats, an den DDR-Unis habe nur Lehre und praktisch keine Forschung stattgefunden, sei schlicht falsch gewesen, räumte auch dessen damaliger Vorsitzende Dieter Simon ein. „Der Gedanke, es könne anders sein, ist nicht aufgekommen“, sagte er.

Doch zog Simon, heute Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie, auch Lehren für den Westen. So sei die „große Abhängigkeit der Wissenschaft vom herrschenden System“ in der DDR ein „historisches Argument, daß es bei uns genauso ist“. Es gebe auch keinen Grund, warum die „nachteiligen Folgen“ eines „straffen Anwendungsbezugs“ nicht auch heute eintreten sollten. Deshalb plädierte Simon dafür, „Wissen um seiner selbst willen zu kultivieren“. In der DDR sei der marxistische Versuch gescheitert, „die Ökonomie zum Alleserklärer zu machen“. Das versehe auch die heute vorherrschenden „ökonomische Betrachtungsweise, diesen feierlichen Import aus den Vereinigten Staaten“, mit einem „dicken Fragezeichen“. Ralph Bollmann

Jürgen Kocka, Renate Mayntz (Hrsg.): „Wissenschaft und Wiedervereinigung, Disziplinen im Umbruch“, Akademie Verlag, Berlin 1998, 540 Seiten, 78 DM

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