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Algeriens Premier im Kreuzverhör

Mit einem gemeinsamen Antrag erzwingt die Opposition eine Fragestunde zur Sicherheitslage in dem Bürgerkriegsland. Die Antworten des Regierungschefs sind dürftig  ■ Von Reiner Wandler

Madrid (taz) – Es war eine Premiere: Erstmals in der Geschichte des unabhängigen Algerien wurde ein Regierungschef vor das Parlament zitiert, um dort Rede und Antwort zu stehen. Anfang letzter Woche hatte die Opposition eine Unterbrechung der Sitzungsperiode und die Einberufung einer Sondersitzung mit Premierminister Ahmed Ouyahia erzwungen. Nach der Gewaltwelle, die seit Beginn des Fastenmonats Ramadan am 31. Dezember über 1.500 Menschenleben gefordert hat, sollte er zum offensichtlichen Versagen seiner Sicherheitspolitik Stellung nehmen.

„Wir können hier nicht einfach weiter über wirtschaftliche Liberalisierung diskutieren, während im Land Hunderte von Bürgern massakriert werden“, lautete die gemeinsame Begründung der gemäßigt islamistischen an-Nahda, der trotzkistischen Arbeiterpartei (PT), der Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) und der Versammlung für Kultur und Demokratie (RCD) für diese Initiative. Die beiden kleinen Regierungsparteien, die islamistische MSP-Hamas und die ehemalige Einheitspartei FLN und selbst 110 der 155 Abgeordneten der regierenden Nationaldemokratischen Versammlung (RND) schlossen sich dem Antrag an.

Am Mittwoch abend kam Ahmed Ouyahia (RND) seiner Verpflichtung nach. In einer mehr als sechs Stunden dauernden harten Befragung gab er erstmals seit dem Abbruch der Parlamentswahlen 1992 und dem Verbot der siegreichen Islamischen Heilsfront (FIS) Zahlen über die Opfer der algerischen Krise bekannt: 26.536 Zivilisten und Mitglieder der Armee, Gendarmerie und Polizei seien bisher ums Leben gekommen, 21.137 verletzt worden. 1.964 Kinder hätten beide Elternteile verloren, 4.958 Menschen erlitten Verletzungen, die sie für den Rest ihres Lebens zu Schwerbehinderten machen. Alleine die Rettungsmaßnahmen für Opfer des Terrorismus hätten bisher umgerechnet knapp drei Millionen Mark verschlungen. 1.350 Schulen und 344 Sanitätsposten hätten nach Anschlägen wiederaufgebaut werden müssen.

Fragen nach der Zunahme der Massaker und dem Versagen der Armee konnten Ouyahia nicht in seinem Zweckoptimismus erschüttern. „In den letzten Jahren ist die Gewalt rückläufig“, versicherte er. „Die Regierung wird weiterhin alles tun, um den Terrorismus und seine Wurzeln zu eliminieren.“ In weiteren Dörfern sollen Waffen an Selbstverteidigungskomitees ausgegeben werden. 5.000 solcher Gruppen bestünden bereits. Die Polizei soll um mehrere hundert Brigaden aufgestockt werden. Trotzdem dürfe sich niemand der Illusion hingeben, daß die Gewalt schon morgen der Vergangenheit angehört, denn: „In Italien dauerte die Ausmerzung der Roten Brigaden 18 Jahre.“

„Ich bin alles andere als zufrieden“, erklärte der Fraktionsvorsitzende von Hamas, Abderresak Mokri, als die Sitzung um vier Uhr morgens zu Ende ging. „Ich warte noch immer darauf, daß mir die Regierung erklärt, wie sie die Krise beenden will.“ Für seine Kollegin Louisa Hanoune (PT) ist die Regierung mit ihrer Sicherheitspolitik „vollständig gescheitert“. Und während die Algerische Liga für Menschenrechte (LADH) Ouyahia der „Schönmalerei“ bezichtigt und die Zahl der Todesopfer selbst auf mindestens 120.000 schätzt, reichten verschiedene Parteien bei Parlamentspräsident Abdelkader Bensalah Anträge auf Generaldebatte zur Sicherheitspolitik für die nächste Woche ein.

Am Ende dieser Debatte können Ouyahias Kritiker – so sieht es die Verfassung vor – ein Mißtrauensvotum stellen. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit um den Premier zu stürzen kommt allerdings nur dann zustande, wenn neben den kleinen Regierungsparteien Hamas und FLN mindestens 29 Abgeordnete der RND gegen die Regierung stimmen.

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