: Kindische Selbsterkundungen
■ Jérôme Bel plätschert banal bei den independancedays
Vier Menschen. Einer singt Strawinsky, ein anderer hält eine Lampe in der Hand, die einzige Lichtquelle auf leerer Bühne. Mehr braucht es nicht. Der Minimalismus, mit dem der französische Choreograph Jérôme Bel bei den independancedays sein Stück Jérôme Bel in Szene setzt, ist anfangs schon beeindruckend.
Die Körper der zwei Frauen und zwei Männer sind nackt. Im Halbschatten sind an einem deutliche Spuren des Alters erkennen. Zwei andere, weiblichen und männlichen Geschlechts, begeben sich auf einen naiven bis kindischen Selbsterkundungsausflug. Sie krempeln Brustwarzen und Hodensack, zerren das Bauchfleisch nach oben, als sei es eine Strumpfhose und klatschen die eine Pobacke, bis sie neben der anderen sichtbar errötet.
Zuerst weckt das Erwartungen. Wie weit und wem soll hier das Fell über die Ohren gezogen werden? Manche Momente erheitern auch. Doch zunehmend wird es ernüchternd langweilig. Dann pinkeln sie unbekümmert auf den Boden und wischen mit dem körpereigenen Naß zuvor geschriebene Namen und Zahlen von einer Tafel. Denn Bel, recht clever, verläßt sich nicht allein auf seine Körperspiele. Namen und Zeichen geben da gute Polster ab, erweisen sich jedoch als Mogelpackungen, die nicht mehr Substanz bieten als den Hauch, der berühmte Namen halt umweht.
„Christian Dior“, mit Lippenstift aufs Bein gepinselt, will vielsagend auf Schein und Sein verweisen. „Thomas Edison“will auf Erhellendes verweisen. In den 70ern fiel eine solche Darbietung unter die Kategorie Performance und wurde in Galerien vorgestellt. Doch diese erregte die Aufmerksamkeit der Tanzwelt. Da will Bel sie auch angesiedelt wissen und verrät im anschließenden Publikumsgespräch, daß er alle Angebote, außerhalb von Theatern zu spielen, abgelehnt habe. Als „Anti-Tänzer“, wie er oft, durchaus anerkennend, bezeichnet wurde, versteht er sich ganz und gar nicht.
Wegweisendes für den zeitgenössischen Tanz ist bei seinem Stück allerdings nicht herausgekommen. Ein paar Ideen sind hier aneinandergereiht, nett und harmlos, entwickelt wurde nichts. Bis darauf, daß aus Strawinsky am Ende Sting wird. Ein Bekleideter singt „I'm an Alien“. So fühlten sich auch die Zuschauer: befremdet und ratlos. Marga Wolff
noch heute, 20.30 Uhr, Kampnagel, halle k2
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