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Achtung Stufen!

Frühstücksgespräche der Hinabgestürzten  ■ Von Gabriele Goettle

Die Immobilienhaimutter tritt durch ihr schmiedeeisernes Gartentor auf die Straße hinaus und wartet gedankenverloren, bis ihre Hündin zwischen den kräftigen Stämmen der ausgedienten Christbäume die Blase entleert hat. In den Tannenzweigen weht Lametta, ein Schwarm Krähen überfliegt lautstark die Dächer der Villen, dann ist es wieder still. Vom gewöhnlichen Erwerbsleben hört man hier kaum mehr als ein unscheinbares Brummen. Hier hat alles seine Ordnung und Unterkunft, selbst Rasenmäher und Harke stehen in einem eigenen Häuschen aus Aluminium. Berlin-Zehlendorf ist der Bezirk mit den wenigsten Sozialhilfeempfängern, 2,1 Prozent. Die meisten hat Kreuzberg, mit über 15 Prozent. In Kreuzberg ist die Zahl der Arbeitslosen mehr als dreimal so hoch und die Sterblichkeit der Bevölkerung unter 65 Jahren doppelt so hoch wie in Zehlendorf.

Zwanzig Minuten braucht man mit dem Auto, bis in die andere Welt. Die alte Garnisonskirche am Südstern steht, vom Verkehr umflutet, auf einer Mittelinsel am oberen Ende der Gneisenaustraße. Der neugotische Sandsteinbau ragt mit rußgeschwärzter Fassade gen Himmel, seit den achtziger Jahren ist er im Besitz des Christlichen Zentrums Berlin, einer charismatischen Freikirche, den Achtundsechzigern unter den Lesern noch als Jesuspeople bekannt. Jeden Donnerstag, von halb zehn bis zwölf Uhr gibt es hier Gottesdienst für Obdachlose, mit anschließendem Frühstück. Gegen neun Uhr bereits treffen die ersten Besucher ein und warten auf der Treppe zum Seiteneingang, lehnen rauchend oder auch biertrinkend am Mäuerchen, spucken ins Gebüsch hinunter und begrüßen sich gegenseitig aufs herzlichste. Die Adresse ist beliebt unter den Bedürftigen, trotz des verhältnismäßig langen Gottesdienstes bei knurrenden Mägen. Sie pilgern aus allen Arbeiterbezirken hierher, überqueren den Zebrastreifen zur Mittelinsel und kommen unsicheren Schrittes, auf Krücken gestützt, schlurfend oder auch schlendernd mit federndem Schritt zur Seitenpforte. Kaum einer kommt ohne Tasche oder Beutel, so unterscheidet man sich vom ziellos umhertreibenden Habenichts, man hat etwas zu transportieren und fällt weniger auf.

Drinnen, im hohen Hallenbau des Kirchenschiffes stehen an Stelle der Sitzreihen, in denen zu den Sonntagsgottesdiensten Hunderte von Bekehrten Platz nehmen, gedeckte Tische für etwa hundert Personen. Auf den Tellern liegen die Brötchen bereit, Wurst- und Käseplatten locken, doch jeder beugt sich dem eisernen Gebot: Platz nehmen und Essen erst nach dem Gottesdienst. So suchen sich alle ein Plätzchen. Die religiös ambitionierten Bedürftigen in den Sitzreihen vor dem Altar, die, die noch ein wenig dösen oder einfach nur im gewärmten Kirchenraum warten wollen, verteilen sich in Frühstückstischnähe. Das Sonnenlicht scheint durch die hohen Glasfenster herein und taucht den Kirchenraum in ein goldfarbenes Licht. Die Fenster über dem schlichten Altar sind neu, eines davon zeigt eine Landschaft mit Flußlauf und die Kühltürme eines Kernkraftwerkes. Die ganze Kirche ist ausgelegt mit dunklem Teppichboden, ein aprikosenfarbener Läufer führt bis zu den Stufen des Altars, im Boden befinden sich Gitterroste, durch die warme Luft in die Kirche geblasen wird. Das massive Gestühl ist mit grünem Samt bezogen. Dies alles ist aber kaum in der Lage, den kalten und martialischen Charakter des Innenraumes zu mildern. Die Kirche wurde 1897 unter Kaiser Wilhelm II. vollendet und mit Salutschüssen eingeweiht zum Gebrauch für die umliegenden Garderegimenter. Rings an den Wänden sind Namen und Wappen der preußischen Provinzen aufgemalt, darunter Spruchbänder, die den ehemaligen Kriegsmann zur rechten Gottesfurcht beim Waffendienst anstacheln sollten: „Der Herr ist der rechte Kriegsmann. Herr ist sein Name“, oder: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“. Der Antiquar kommt, sieht, was ich aufschreibe und flüstert mir zu: „Das war mein Einsegnungsspruch, 1944, in Berlin.“

Der Gottesdienst hat bereits angefangen, er wird zelebriert von „Paule“, Dr. Ing., Pastor und Evangelist. Wie üblich steht er in Pullover und Jeans hinter dem Schwenkarm des Mikrofons, ein unauffälliger mittelgroßer Mann mittleren Alters, und jauchzt ekstatisch hinein: „Mann, bin ich heute wieder mal gut drauf! Das kommt, weil Gott mich lieb hat.“ Aber das war nicht immer so, erklärt er und leitet den Höhepunkt der Predigt mit der Frage ein: „Was war der Tiefpunkt in eurem Leben, wo ihr am konfusesten gewesen seid, am verwirrtesten, am meisten durcheinander?“ Bei ihm, Paule, war das der Moment, als eines Tages die Familie anrief, er müsse dringend nach Hause kommen, es sei nämlich sein Vater ins Delirium gefallen, weil er fortwährend dem Alkohol zugesprochen habe. Fast alle, die hier in der Kirche sitzen, kennen die Geschichte schon, dennoch wird sie immer wieder gern gehört, besonders von denen, die ihren Schnaps in der Tasche mitführen.

Und Paule ist also hingefahren und hat sich schrecklich aufgeregt, was er mit fuchtelnden Armbewegungen unterstreicht. In der Verzweiflung hat er sich dann in seinem Jugendzimmer hingekniet und gebetet, und plötzlich wurde er ganz ruhig, da stand nämlich Jesus mitten im Raum, nicht leibhaftig natürlich, aber fast wie zum Anfassen, das brachte die Wende in die väterliche Katastrophe. Es folgen ausschmückende Beschreibungen, begleitet von Emotionsäußerungen. Später singt der Chor der Helfer und Bekehrten aufs süßlichste ein Lied mit der zentralen Aussage „Jesus ist schon da“. Die Singenden swingen ein wenig mit erhobenen Händen, begleitet von einer Geigerin und einem jungen Mann am Flügel, der am ergriffensten von allen ins Mikrofon hineinjubiliert. Dann folgen noch ein paar ermunternde Worte über die Anwesenheit Jesu, über die Hilfe, die jeder erwarten kann, wenn er nur will; anschießend werden die Hungernden zu Tisch gebeten.

Ein Weißhaariger mit Zopf, der zu den Helfern und Bekehrten gehört, erzählt in gedämpftem Tonfall und mit seltsamer Hast seine Geschichte: „Die Hölle ist hier auf Erden, nicht das Paradies. Ich weiß das, ich weiß, was ich sage, ich war in der Hölle, war Alkoholiker, habe Rauschgift genommen und dazu stangenweise – man kann schon sagen, gefressen, die Zigaretten. Hab' 46 Kilo gewogen, die Lunge kaputt, der Magen, bin eines Tages vor der Kirche gestanden, reingeschlichen und wollte rauf da, nach oben, mir das Leben nehmen, und das war nicht das erste Mal.“ Er zeigt seinen Unterarm, an dem eine gut spannenlange wurstförmige Narbe zu sehen ist. „Das hab ich mir aufgeschnitten“, sagt er, „aber dann, in der Kirche, ist plötzlich Jesus zu mir gekommen, zu mir, einem Alkoholiker! Ohne Witz, so war's. Von einem Tag auf den anderen habe ich nichts mehr getrunken, drei Wochen später war Schluß mit dem Rauchen, denn ich habe gesagt: Gott, wenn du meine Lunge heilst, dann hör' ich auf mit Rauchen. Und so war's. Ach, ich hab' schon was hinter mir, ich bin zweimal – ne, dreimal – geschieden, mit der einen Frau war ich einundzwanzig Jahre verheiratet, wir hatten vier Kinder, und für diese Kinder da bete ich täglich, ich bete und bete. Dann war ich in Japan, Osaka, sechs Wochen verheiratet, aber die Japaner sind brutal, schreckliche Menschen, der ganze Familienclan ging auf mich los, das ist alles dort ganz anders als bei uns. Dann bin ich wieder zurück. Ja, die Hölle gibt's und die Dämonen, das wollen viele Christen nicht wahrhaben, aber ich habe alles gesehen, mit meinen eigenen Augen. In ganz Japan, da ist das Böse ja der Drachen. Ich habe so einen Drachen mal gesehen, in Osaka, bei uns im Schlafzimmer. Ich lag da mit meiner Frau, dort hat man ja so Futons liegen, da saß der Drache plötzlich direkt davor. Ich hab' mich gar nicht groß gekümmert um den, das ist das beste, doch später sprach er dann mit mir, durch den Mund meiner Frau, wie soll ich das erklären, meine Frau stand auf, und ich habe gesehen wie dieser Drache oder Satan hinter sie huschte, und dann kam das ganz süß, ganz lieblich aus ihrem Mund, daß ich gehen soll, das Haus verlassen und nie mehr zurückkehren. Das habe ich auch gemacht, und wie ich wieder hier war, wußte ich plötzlich, daß Gott will, ich soll energisch lernen und arbeiten für die Evangelisation.“

Der Antiquar kommt, zupft mich am Arm und sagt eindringlich: „Schnell, ich muß dir einen zeigen, einen Franzosen, der Kirchenmaler von Beruf ist und Krebs hat, drei Herzinfarkte hatte er.“ Ich werde zu einem Tisch geführt, der, strategisch ideal, gleich neben dem Eingang zur Teeküche liegt, hier kommen die Helfer mit den Speisen und Getränken vorbei. Am Kopfende des Tisches sitzt ein kindlich aussehender Punk mit signalrot gefärbten Schopf, links neben ihm ein weißhaariger Mann mit Bürstenhaarschnitt und verwegenen Augen, zu seinen Füßen liegt ein Kampfhund. Zur Rechten des Punks sitzt der Kirchenmaler, ein magerer helläugiger Mann mit gelblicher Haut, geschwungenen Lippen und schulterlangem grauem Haar. Der Antiquar versucht alle einander vorzustellen, derartige Formalitäten werden aber geflissentlich übergangen. Der Punk hat vor sich auf dem Teller den abgeschnittenen unteren Teil einer Plastikflasche stehen, Fassungsvermögen etwa ein halber Liter, da hinein entleert er das zum allgemeinen Gebrauch bestimmte Kännchen mit der Kaffeesahne, schüttet den Inhalt der Zuckerdose hinterher, füllt mit Tee auf, rührt um und trinkt alles in einem Zuge aus. „Milch, Zucker und Tee, das brauch' ich zum Leben!“ ruft er unter den mißbilligenden Blicken der Umsitzenden und knetet verlegen die Hände mit den abgebissenen Nägeln und der Tätowierung NAZIS. Nun, da die drängendste Gier gestillt ist, wird er sozial, reicht unaufgefordert Käse und Marmelade weiter, bestellt beim zivildienstleistenden Helfer frischen Kaffee, Zucker und Sahne und organisiert sogar einen Wassernapf für den Kampfhund. Der weißhaarige Besitzer sagt mit dem typischen Lispeln, das entsteht, wenn die Frontzähne fehlen: „Braver Nazi!“ Entrüstet spreizt der Punk seine Finger und hält sie uns hin, als würden sie alles von sich aus erklären. Sein Kindergesicht nimmt einen weinerlichen Ausdruck an, er reicht dem Kampfhund blitzschnell eine Scheibe Salami unter den Tisch und erklärt, auf die Tätowierung deutend: „Das hab' ich mir selbst gemacht, kurz vor der Wende, damals, drüben im Osten, das müßt ihr nämlich mitbedenken, so was war nicht gern gesehen. Also zuerst hab ich das draufgeschrieben, NAZIS, hier oben auf jedem Finger einen Buchstaben, da sollte dann auch noch dazukommen RAUS, und ein durchgestrichenes Hakenkreuz war auch geplant, aber dann kam die Wende, und ich bin nicht mehr dazu gekommen, hab' auch die passende Tusche nicht mehr gefunden, ja, und deshalb steht es halbfertig da. Mancher, der sich nicht so recht auskennt mit der Optik, der denkt vielleicht, ich bin rechts, aber die meisten wissen Bescheid, daß ich ein PUNK bin, durch und durch! Ich hab' damals bei den Häuserkämpfen in der Mainzer Straße mitgemischt, ich war ja bei der NVA vorher und hatte gute Kondition, 3.000 Bullen, 3.000 Autonome, wir haben alte Sofas mit Benzin übergossen und brennend aus dem obersten Stock auf die Bullen runtergeworfen!“ Er gestikuliert wild und fährt in höchster Freude fort: „Ich bin Anarchist! Wir Hausbesetzer, wir lieben die totale Anarchie. Wir kennen keinen Mülleimer. Ist eine Margarineschachtel leer, eine Fischbüchse oder eine Dose Hundefutter, Fenster auf und raus! Ist ein Fernseher abgebrannt, Fenster auf und raus! So machen wir das. Wenn genug unten liegt, kommt die BSR und räumt es ab, sie muß ja wegen drohender Seuchengefahr einschreiten, denn so was zieht die Ratten an, ich hab' selbst welche gesehen. Solche Viecher!“ Zucker und Sahne werden gebracht, doch bevor der Punk danach greifen kann, hat der Antiquar sie aus seiner Reichweite entfernt. „Das ist gemein“, sagt der Punk, „dann hol' ich mir's eben anderswo.“ Er steht auf und verschwindet für eine Weile.

Der Kampfhundbesitzer sagt ohne großen Nachdruck: „Das sind doch irgendwie Asoziale, diese Hausbesetzer? Unsereins hat ja wenigstens noch einen ordentlichen Beruf erlernt, früher. Ich bin Polsterer. Was, da staunt ihr, ja, ich habe Polsterer gelernt. Heute machen sie das alles nur noch mit Schaumstoff und mit so einem Tacker, das ist in meinen Augen Pfuscharbeit. Wenn ich nicht arbeitslos wäre, ich könnte gar nicht arbeiten, wenn ich so 'nen Schund machen müßte, was? Ich habe noch nach der alten Art gelernt, solides Holzgestell, Sprungfeder, Kapok, Nessel, Rupfen, Gurtband, Roßhaar. Das kennen die heute gar nicht. Aber es war schon eine Viecherei, das Roßhaar, das mußten wir immer waschen, das war von den Mähnen und Schwänzen der Pferde, von Rappe und Fuchs. Nur das Roßhaar vom Schimmel, das kam gar nicht erst zu uns, das war nur für Violinenbögen.“ Zwei Helferinnen treten heran und verteilen aus einer Plastikwanne mayonnaisegetränkten Kartoffelsalat. Wer möchte, bekommt einen Klecks davon auf den Teller. Das schwere Gericht erfreut sich zu dieser Morgenstunde keiner allzu großen Beliebtheit, nur die Allerhungrigsten greifen zu. Der Polsterer läßt den Teller des Punks füllen und fährt fort: „Das wurde ja richtiggehend gekocht, das Roßhaar, in großen Bottichen. Ein Geruch war das, wie Suppe aus lauter Hufen oder so was, daran konnte man sich kaum gewöhnen, und ich, ich vertrage was! Dabei war das oft auch gebrauchtes Roßhaar, aus alten Matratzen oder Polstermöbeln, aber das roch, als wär' das Pferd gestern erst in den Schlachthof geführt worden. Nach dem Kochen wurde das dann so aufgewickelt auf Stöcke, zum Trocknen, damit es nachher schön bauscht und federt. Für vieles gab es Maschinen, Zupf- und Rupfmaschinen, aber oft mußten wir auch die Wolle über den Kamm ziehen.“

Der Kirchenmaler räuspert sich und sagt in einem ganz leicht gebrochenen Deutsch: „Im Heim, wo ich salemals aufgewachsen bin, da mußten wir abends von Sechse bis um Zehne immer Schafswolle kardätschen, das war so ein Holz mit Nägeln, und da haben wir das durchziehen müssen, immer wieder, bis alles ganz gekämmt war.“ Ein dicker Helfer verteilt harte Eier, auch ein Nachschub an Brötchen wird herumgereicht. Jeder nimmt, und wer selbst keine Verwendung hat, schenkt es dem Nebenmann. Einige der Leute versorgen von dem, was sie hier mitnehmen können, noch Ärmere, die zu gebrechlich, zu krank oder zu alt sind, um sich hierher zu schleppen. Auch der Antiquar und der Kirchenmaler hamstern, letzterer besonders Brötchen. Der Polsterer gibt ihm seinen Teil dazu und sagt: Nimm nur, ich hab' genug zu Hause, aber das mit der Wolle, jetzt hab' ich mich gerade erinnert, wie man sich da immer aufgekratzt hat.“ „Ja, die ganzen Hände“, ruft der Kirchenmaler aus, „und wir haben ja auch Matratzen gemacht. Auch mit Roßhaar, aber wir hatten alles gehabt, auch Gras, das war aus dem Meer, glaub ich.“ „Seegras!“ assistiert der Polsterer, und der Kirchenmaler fährt fort: „Ja, Seegras, und da haben wir ein bizzele rausgezupft und uns mit dem dünnen Papier aus dem Gebetsbuch Zigaretten gedreht.“ Der Polsterer kichert: „Na, wir auch, mit Zeitung. Aber heute, da rauch' ich richtiges Gras. Nachher treffe ich wieder meinen Kumpel am Hermannplatz, der bringt mir was mit.“ „Um aufs Seegras zurückzukommen“, sagt der Kirchenmaler unbeeindruckt, „da haben salemals im Heim die Schwestern sogar Tee daraus gekocht für uns, wenn wir krank waren. Auch die Strümpfe haben sie von uns genommen, ohne sie zu waschen, und mit Seegras gefüllt. Das wurde ganz heiß gemacht und kam dann um den Hals, so lange, bis man gesund war. Das hat gut gestunken bei manch einem!“

Der Punk kommt zurück und stürzt sich auf seinen Kartoffelsalat, kaum ist er fertig, überkommt ihn ein Liebesanfall. Er sinkt neben dem Kampfhund auf die Knie, umarmt ihn viele Male, streichelt ihn heftig, und plötzlich gipfeln diese Liebkosungen in innigen Zungenküssen. Punk- und Kampfhundzunge umspielen sich geschmeidig, nicht endenwollend. Der Hund jedoch wirkt allmählich etwas ratlos und beantwortet die feurigen Küsse mit beschwichtigendem Lecken. Aus dem Antiquar, der das Schauspiel mit bewegter Miene verfolgt hat, bricht es frohlockend heraus: „Unzucht zwischen Mensch und Tier – und das in einem Gotteshaus!“ Der Kirchenmaler sagt: „Du machst den armen Hund noch ganz dreckig mit deiner Zunge. Paß nur auf, gleich wirst du gebissen.“ Worauf der Polsterer empört ausruft: „Die beißt nicht, meine Cindy, die ist vollkommen harmlos!“ Der Punk klopft den breitknochigen Hundekopf mit dem mächtigen Kiefer und sagt zufrieden: „Die lieben mich alle, die Hunde.“ „Die Hunde vielleicht...“ sagt der Kirchenmaler, und der Punk entgegnet, immer noch knieend, nun aber dem Kirchenmaler zugewandt: „Nee, paß mal auf, ich liebe Hunde über alles, kann es nicht sehen, wenn sie einer schlecht behandelt. Der Hund, den ich zu Hause habe, der ist dreizehn Jahre alt, ich habe ihn einem Typen weggenommen, von dem er nur Schläge bekam. Bevor ich esse, kriegt immer erst der Hund was. Der schläft mit mir im Bett, unter meiner Decke, so vergißt er sein schlechtes Leben, das er gehabt hat.“ Der Kirchenmaler fragt ironisch: „Kann ich auch unter deine Decke kommen und mein schlechtes Leben vergessen?“ Freundlich abwinkend steht der Punk auf und begibt sich, ewig hungrig, auf die Suche nach etwa Eßbarem an den Nebentischen. Der Antiquar stimmt einen Schlager aus den fünfziger Jahren an: „Cindy, o Cindy, dein Herz wird traurig sein, der Mann, den du geliebt, ließ dich allein...“ Protestierend ruft der Polsterer: „Mach mal keinen Quatsch, Mensch, ich bin doch da!“ Er tätschelt seine Hündin, die findet, es sei Zeit zum Aufbruch, und ruft dann plötzlich streng: „Mach Platte!“ Alle Umsitzenden amüsieren sich sehr über diesen Ausspruch, denn im hier geläufigen Jargon bedeutet „Platte machen“ das, was der Obdachlose tut, wenn er sich zum Schlafen unter eine Brücke oder in ein Gebüsch niederlegt.

„Ach du“, sagt der Antiquar, „du bist doch Kirchenmaler, stimmt's? Und Franzose bist du auch noch, erzähl doch mal.“ „Was soll ich euch da verzähle, das ist bei mir so viel und so kompliziert“, sagt der Kirchenmaler und beginnt zu erzählhen: „Ich stamme aus dem Elsaß, aus Strasbourg, kennt jemand Strasbourg ein bizzele? In der Grand Rue, Nummer 14, da bin ich geboren, in Mulhouse bin ich im Heim gewesen, das war furchtbar, und in Illkirch, da, wo die weißen Pater sind, da bin ich ausgebildet worden als Kirchenmaler. Wie ich mein Meisterdiplom gemacht habe, salemals, da mußte ich 700 Farbtöne beherrschen und die ganzen Pigmente, Techniken, Verputze und alles. Ich war schon als Kind begabt fürs Malen, ich hab schon mit sieben Jahren auf Pergament geschrieben, in gotischer Schrift. Und die Kirchen, die haben mir auch immer imponiert, die ganz alten, so wie das Münster in Strasbourg. Das wurde im 11. Jahrhundert angefangen, im 13. Jahrhundert kamen die Türme. Nur einer ist jemals fertig geworden, der Nordturm.“ Der Antiquar ruft aus: „Ja, der sollte doch abgerissen werden in der Revolutionszeit, weil er alles überragt hat, und dann ham sie eine riesige Jakobinermütze aus Blech drübergezogen, so konnte er bleiben.“ Der Kirchenmaler fährt fort: „Ich war da mal oben, du, das ist, wie wenn du fliegst. Und die ganzen Teufel da, die Wasserspeier, das kann man von unten aus gar nicht sehen. Das Münster, das ist ja nicht mit – wie sagt man das? – mit Mörtel gefügt, die Steine sind nur so aufeinandergelegt, sie haben Löcher, da ist das flüssige Blei dann eingesogen. Und dieses ganze riesige Bauwerk, hundert Meter lang, vierzig Meter breit, vierzig Meter hoch – mit dem Turm hundertvierzig – das alles schwimmt im Wasser, unterirdisch, das steht auf drei Schiffen aus Eichenholz.“ „Wie Venedig!“ sagt der Antiquar. Der Polsterer verabschiedet sich, und die Helfer beginnen allmählich die Tische abzuräumen. „Nein“, sagt der Kirchenmaler, „das steht nicht auf Pfählen, das schwimmt. Und unterirdisch gibt es Katakomben, wo man kilometerlang zu Fuß gehen kann, Knochen sind da auch drin, glaub' ich, ob das öffentlich ist, weiß ich nicht. Und dann ist im Münster ja noch die berühmte astrologische Uhr, aber das wissen die wenigsten Leute, daß das gar nicht mehr die Originaluhr ist. Die ganzen Teile sind nebenan, im Museum, im Palais Rohan, da kann man die Reste besichtigen, der „L'horloge astronomique“, einige Teile. Sie mußten im 16. Jahrhundert dieses Kunstwerk schaffen, weil die Zeit noch ein Rätsel war für die Leute. Dem Erbauer sind salemals die Augen ausgestochen worden, nur, damit er nie mehr so eine Uhr baut. Und die Orgel im Münster, das ist nicht die Orgel, die man sieht, die wirkliche Orgel, die ist unterirdisch, ist ist sechsstufig und hat 7.000 Pfeifen. Sie wird nur ganz selten gespielt, denn die Vibration geht durch alle Steine, bis zur Turmspitze hinaus. Das ist sehr gefährlich. Ich weiß nicht, ob ihr katholisch seid, nein? Also, da gibt es ein Orgelstück, das wird nur gespielt, wenn ein Bischof eingeweiht wird oder ein Kardinal, und für diese Zeremonie spielt man dieses Stück, das ist so – wie sagt man? – gewaltig, das frißt sich direkt in die Mauern hinein, das verschlingt alle Zuhörer regelrecht, so daß salemals selbst ein Jude oder Moslem nachher Christ geworden ist.“

Wir müssen uns erheben, die Tische werden weggetragen. Wir sind die letzten Gäste. Der Antiquar schlüpft umständlich in seine Jacke, schultert seine Tasche und beschließt dann, schnell noch ins Arztmobil zu gehen, das draußen vor der Tür steht. Er hat das Gefühl, daß sein Blutdruck schon wieder zu hoch ist. Der Kirchenmaler sagt erleichtert: „Ah, das ist mal eine gute Idee, ich gehe mit, ich hab' nämlich meine Herztabletten zu Hause vergessen.“ Die Helfer umschwirren uns, schieben die zusammengeklappten Tische auf einem Wagen davon, der, der dem Drachen begegnete in Japan, bearbeitet den Teppichboden mit dem Staubsauger, andere rücken die Stuhlreihen wieder in ihre Normalposition, während die weiblichen Helferinnen sich den körperlich eher leichteren Aufgaben widmen, Geschirr abwaschen und Ordnung schaffen.

Draußen vor dem Hauptportal steht das weiße Arztmobil, umringt von Leuten, die sich unterhalten oder warten, bis sie an der Reihe sind. Ein Zivildienstleistender, mit langen lockigen Haaren, sitzt fröstelnd auf seinem Klappstuhl, hat eine Kladde auf den Knien und notiert die Personalien und Anliegen der Hilfsbedürftigen für die Ärztin. Es wird ein Weilchen dauern. Wir ziehen uns in den Windschatten des Portals zurück. Der Kirchenmaler schaut mißbilligend auf Bogen und Fassade und sagt: „Für jemand wie mich, der Kirchen ganz gern hat, hat Berlin gar nichts zu bieten, nicht mal die Glocken läuten so schön wie bei uns. Aber was ich noch verzählen wollte vorhin, wo ich von der Orgel gesprochen habe, das ist eine Geschichte, die ist passiert, da war ich ungefähr dreiundzwanzig Jahre alt. Da hat mich ein Pater in eine Kirche eingeladen in Strasbourg, und salemals habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Musikgenuß gespürt. Wisset ihr, was er gemacht hat? Der war ein Spezialist für die Orgel, das wußte ich gar nicht. Er hat ein ganz einfaches Weihnachtslied gespielt, auf einer Silbermann-Orgel, aber er hat das so gespielt, daß es geklungen hat, ganz genau wie eine Kinderstimme von einem ganz jungen Kind.“ Er zündet sich einen Zigarillo an und bläst den Rauch heftig von sich. „Aber sonst... Was ich in meinem Leben gehabt habe, an Schwierigkeiten, das kann sich ein normaler Mensch nicht leicht vorstellen. Ich war genau drei Monate alt, da kam ich als Kriegswaise in ein Heim. Und geblieben bin ich bis zum neunzehnten Lebensjahr, da hatte ich immer noch eine Glatze, genauso wie als kleines Kind. Und wissest ihr auch warum? Die, die von einem deutschen Vater auf die Welt gekommen sind, die waren verhaßt, die mußten eine Glatze tragen als Zeichen. Ich war der „sale boche“. Das Heim war von geistlichen Schwestern vom heiligen Kreuz, uns haben sie entsprechend behandelt. Wenn wir nur geflüstert haben nachts, im Schlafsaal, dann gab es schon Hiebe. Die Schwester hat sich hingesetzt, unser Kopf kam in ihren Schoß, sie hat ihn eingeklemmt zwischen ihren Beinen und dann hinten draufgeschlagen auf unsern nackten Hintern, bis alles richtig geglüht hat und wir fast erstickt sind vor Enge und Schmerzen. Sie haben uns auch oft zur Strafe keine Essen gegeben, und sie haben uns eingesperrt in dunkle große Schränke, stundenlang, tagelang. Das waren ihre Strafen und viele mehr. Wir hatten Holzpantinen an, lange Zeit, Sommer und Winter, ich hatte immer Blasen, Blut und Krusten an den Füßen. Die Löcher in den Strümpfen mußten wir uns selber stopfen, meine ersten Socken, die habe ich mir selber gestrickt, ganz alleine, und wisset ihr auch womit? Mit Hunderternägeln. Was ich gefroren habe salemals, so kann ich heute gar nicht mehr frieren.“ Der Antiquar ist an der Reihe und verschwindet im Arztmobil. „Und Hunger hatte ich“, fährt der Kirchenmaler gedankenversunken fort, „immer nur Hunger – und Haß! Haß auf die Schwestern, die frommen, die das alles gemacht haben mit mir, die immer gebeichtet haben und gesungen mit ihren reinen Stimmen; und gebetet um Vergebung für ihre Sünden. Heute ist es so mit mir, wisset sie, ich bin ganz ehrlich, wenn eine Frau vergewaltigt würde direkt neben mir“, er blickt mit einem überraschend kalten Gesichtsausdruck schräg nach unten hin, wo die vorzustellende Untat passiert, und sagt leise: „Ich würde nichts empfinden, kein Mitleid, nichts anderes. Ich hasse Frauen!“ Der Antiquar entsteigt mit zufriedenem Lächeln dem Arztmobil und ruft triumphierend: „180 zu 100, viel zu hoch!“ Nun begibt sich der Kirchenmaler ins Auto, die Schiebetür rollt hinter ihm ins Schloß, von seinem weggeworfenen Zigarillostummel steigt noch ein wenig Rauch auf. „Du, der ist so krank“, sagt der Antiquar, „der müßte schon längst tot sein, irgend was hält den am Leben. Eine Niere hat er nur noch, ein Karzinom irgendwo, Wasser in den Lungen, ach ja, Bypass hat er auch und was noch alles... Und der raucht und raucht, aber Alkohol rührt er nicht an, sagt er.“ Die Schiebetür rollt zurück, und der Kirchenmaler kommt unverrichteter Dinge heraus, man hatte die passenden Tabletten nicht. „Das ist so ein spezielles Medikament, macht nichts, ich fahr' jetzt sowieso nach Hause“, sagt er und schaut mit nachdenklichem Gesichtsausdruck auf das Arztmobil und die verlorenen Gestalten, die etwas abseits stehn und trinken, „früher, da hat man die armen Leute einfach verkommen lassen, aber was man heute mit ihnen macht, das grenzt an seelischer Grausamkeit. Nehmt mal mich als Beispiel, ich wirke doch krank? Ich bin auch krank, ich sitze so in der Scheiße, daß ich es nicht mal merke, aber so was muß man doch merken? Sie wollen nicht, daß man es merkt, und ich bin auch gar nicht unglücklich, ich bin sogar fröhlich.“ Und wie zum Beweis gelingt ihm ein bis in die Augen hineinreichendes Lächeln zum Abschied.

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